Spazierkünstlerin

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Treffpunkt: Pfauen-Foyer, Zürich
Route: Um den Startpunkt des Spaziergangs festzulegen, wird ein Dartpfeil auf eine Zürich-Karte geworfen. Er trifft den Bahnhof Wiedikon. Wir fahren mit der Tram 9 hin. Dort halten wir ein paar «Spazierregeln» fest. Die Route entsteht dann im Gehen.

Marie-Anne Lerjen, Spazierkünstlerin, Gründerin von lerjentours - Agentur für Gehkultur. James Bantone fotografiert, Marta Piras interviewt.

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Im Pfauen-Foyer

MP: Arbeitest du oft mit Zufall?

ML: Nein, eigentlich nicht, aber für dieses Treffen heute passt es gut.

Haltestelle Kunsthaus und dann in der Tram 9

MP: Wie lange bist du schon Spazierkünstlerin?

ML: Offiziell seit 2011, aber ich hatte schon vorher Geh-Experimente mit Freund*innen gemacht.

MP: Und ist deine Praxis Zürich-spezifisch?

ML: Nein, überhaupt nicht. Mich interessiert grundsätzlich jeder Ort. Es geht darum, zu unterschiedlichsten Orten eine passende «Herangehensweise» zu entwickeln. Ich überlege mir, «wie» man durch diese Orte geht, um sie auf intensivere Weise wahrzunehmen. Die Spaziergänge, die ich entwickle, sind zum Mitgehen. Es sind aber keine klassischen Stadtführungen, bei denen Wissen vermittelt wird, es geht vielmehr um Erfahrungen, die man vor Ort macht, die einen zu eigenen Gedanken anregen. Deswegen interessiert mich der Austausch mit den Teilnehmenden nach einem Spaziergang auch.

Zu Spazierkunst kann ich sagen, dass sie eine eigene Tradition innerhalb der Kunst hat. Es gibt heute auf der ganzen Welt Künstler*innen, die sich dieser zuordnen. Gemeinsam ist ein Interesse für den Zusammenhang von Wahrnehmung und Gehen. Die Arbeitsweisen sind unterschiedlich und auch der künstlerische Ausdruck ist vielfältig. Es gibt ein internationales Walking Artists Network, auch Konferenzen zu Spazierkunst oder Spazierkunst-Festivals. Ich war schon an Treffen in Deutschland, Grossbritannien, Griechenland und an anderen Orten.

MP: Du hattest gesagt, dass du dich nach den Spaziergängen mit den Teilnehmenden austauschst.

ML: Oft, ja. Immer wieder wird während der Spaziergänge nicht gesprochen. Danach bin ich gespannt, was erlebt, gesehen oder gehört wurde. Die Spaziergänge können ein gutes Reflexionswerkzeug sein oder der Anfang einer Auseinandersetzung über Themen. Man kann beispielsweise am selben Ort verschiedene Spaziergänge machen, immer wieder den Fokus ändern, um sich der Komplexität des Ortes anzunähern.

Bahnhof Wiedikon

MP: Wie bist du auf die «Wildgans-Übung» gekommen, die du für unseren Spaziergang vorgeschlagen hast?

ML: Für die Zeit des Lockdowns hat eine Nachbarin bei uns im Hof ein tibetisches Yoga organisiert. Bei einer der Übungen war ich überrascht von den Perspektiven, die sich dabei ergaben. Die Übung heisst: «Wie die Wildgans Wasser trinkt» – oder so ähnlich.

Also, die Wildgans holt Wasser (lehnt sich nach vorne und schaut kopfüber zwischen den Beinen hindurch) und schluckt dann das Wasser (lehnt sich nach hinten mit langem Hals und schaut nach oben). Man sieht also die Welt einmal verkehrt hinter sich und dann den Himmel über sich. Ich habe dabei unseren Hof neu gesehen.

MP: Wie werden wir nun spazieren? Ich hätte Lust, auch einen Teil schweigend zu gehen.

ML: Gut, ich schlage vor, wir gehen 1 Stunde. Alle 10 Minuten stoppen wir und machen die Wildgans-Übung, um uns die beiden Perspektiven anzuschauen. Die erste Hälfte der Zeit schweigen wir und sehen, was sich daraus ergibt. Wir lassen uns von leuchtenden Farben anziehen. Alle führen und folgen gleichzeitig.

Spaziergang

Die 30 Minuten des stillen Spazierens sind um.

MP: Es fällt mir grad echt schwer, wieder zu sprechen. Ich muss wieder reinkommen. Die Aufgabe war gar nicht so einfach. Wirklich viele Eindrücke. Und es hat vielmehr Farben in Zürich, als ich immer dachte. Ausserdem habe ich die Wechselwirkung von äusseren Eindrücken und inneren Prozessen sehr stark erlebt. Passiert es ab und zu, dass Menschen emotional auf die Spaziergänge reagieren?

ML: Nach meinen «Walks», wie ich das Format nenne, erzählen die Leute meist über viele Eindrücke. Körperlich-sinnliche, manchmal auch emotionale. Ich war mal eingeladen, einen Walk auf dem Areal eines ausgedienten Tennisplatzes durchzuführen. Um die zwei Tennisplätze herum stand noch der hohe Zaun, welcher die Plätze einfasste und teilweise trennte. Ich gab vor, dass die Teilnehmer*innen den Platz während einer halben Stunde selbst entdecken konnten, dass sie aber mit einer Hand den Kontakt zum Zaun nie verlieren sollten. Man konnte aussenrum gehen, innenrum, von einem Tennisplatz zum anderen wechseln, aber immer mit einer Hand am Zaun. Viele haben davon berichtet, wie sich mit der Zeit ihr Fokus verändert hat, wie sie verschiedene Arten des Blickens durch den Zaun hindurch, verschiedene Arten des «Scharfstellens» erlebt haben. Eine Teilnehmerin hatte ein sehr emotionales Erlebnis. Sie hatte sich an eine Grenze, eine Landesgrenze versetzt gefühlt, an welcher Geflüchtete abgewiesen werden. Sehr viele verschiedene Erfahrungen ergaben sich, die ich mir selbst nicht hätte ausdenken können. Nur durch diese einfache Aufgabe und über die kurze Dauer von 30 Minuten.

MP (deutet auf einen Mann im rosa Hemd): Sollen wir ihm nachgehen?

ML: Ja, gute Farbe, lassen wir uns von ihm leiten.

Manchmal spielen die Walks auch auf unerwartete Weise mit der Umgebung zusammen. Mit einer befreundeten Künstlerin habe ich mal zu einem Juchzer-Walk eingeladen. Wir waren in zwei getrennten Gruppen in der Innenstadt unterwegs und blieben durch Juchzer, diese lauten Rufe, die man eigentlich in den Bergen nutzt, in akustischer Verbindung. Durch diese Anordnung kamen unglaublich viele spannende Hörerlebnisse zusammen – es gab sogar Echos von Fassaden. Ein besonderes Echo kam plötzlich vom Lindenhof her. Dort fand zufällig an diesem Tag ein grosses Fest von österreichischen Jagdfreund*innen statt, die haben dann ebenfalls angefangen zu juchzen und uns zu antworten.

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Fragen & Antworten

Die Zeit ist um. Wir haben unsere letzte Wildgans-Übung vor uns.

ML: Wow, das sah jetzt krass aus, das Tram, das kopfüber auf uns zugefahren kam.

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