«… nicht immer ein Spaziergang!»

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Treffpunkt: Tramhaltestelle «Löwenplatz», Zürich
Route: Bahnhofstrasse, Rennweg, über die Gemüsebrücke (oder Rathausbrücke) ins Niederdorf, mit Stopps beim Stüssihof, beim Predigerplatz und beim Theater Neumarkt.

Zineb Benkhelifa lebt mit einer Mobilitätsbehinderung aufgrund von Polio, ist Beauftragte der Stadt Zürich für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung und Mitarbeitende des Schweizerischen Bühnenkünstlerverbandes (SBKV). James Bantone fotografiert. Marta Piras interviewt.

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Wir befinden uns auf der Usteristrasse, rechts vom GLOBUS, den Löwenplatz im Rücken.

ZB: Zu dieser Strasse kann ich gleich schon etwas zu Barrierefreiheit sagen.

Diese Stelle ist für Menschen mit Sehbehinderung extrem herausfordernd. Also die Orientierung ist für sie im Allgemeinen am Löwenplatz schwierig. Beim Gleis auf der Usteristrasse handelt es sich um ein Zwischengleis, das mehrmals am Tag von einem Tram passiert wird, dieses Gleis ist nicht im normalen Fahrplan der VBZ integriert und nur unregelmässig befahren. Ist dies der Fall, wird das zwar angezeigt, aber nur visuell und nicht akustisch, auf dem elektronisch gesteuerten temporären Schild erscheint die Warnung: «Tram von hinten». Ziemlich gefährlich für Passantinnen und Passanten mit Sehbehinderung.

MP: Wie geht man vor, um solche Lücken zu schliessen?

ZB: Die VBZ geht das gut an und hat eine Kommission ins Leben gerufen, die sie in ihre Projekte einbezieht. Dort habe ich als städtische Beauftragte für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung auch Einsitz. Weitere Kommissionsmitglieder sind neben VBZ-Mitarbeitenden Menschen mit Seh-, Hör- und Mobilitätsbehinderung, aber auch eine Vertretung, die für die Senioren spricht. Ältere Menschen sind oft von all diesen Einschränkungen im Sehen, Hören und in der Mobilität betroffen. Die Kommission wird bei geplanten Projekten, insbesondere längeren Bauarbeiten und Veränderungen im Verkehrsnetz, konsultiert. Gerade für Menschen mit Sehbehinderung ist es wichtig, frühzeitig über Änderungen informiert zu werden, da sie sich auf Routen verlassen, die sie im Mobilitätstraining eingeübt haben.

MP: Das heisst, du bist jetzt auch unglaublich gut informiert über alle neu geplanten Bauten, Baustellen und die Stadtentwicklung? Auch als Beauftragte der Stadt für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung bekommst du da wohl vieles mit.

ZB: Ja, eigentlich bin ich diesbezüglich an der Informationsquelle. Aber oft fehlt die Zeit, um mich umfassend in alles einlesen zu können. Zumindest weiss ich, wo ich die nötigen Infos erhalten kann. Die Stadtverwaltung ist eine grosse Organisation. Gemeinsam mit meiner Job-Sharing-Partnerin Flavia Frei sind wir Beauftragte für die für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung Anlauf- und Koordinationsstelle für die Stadtverwaltung, welche rund 30'000 Mitarbeitende hat. Wir bringen den Fokus der Barrierefreiheit in städtische Projekte ein. Auch für die Bevölkerung sind wir Anlaufstelle. Da erhalten wir vor allem Anfragen zu den Themen Wohnen, Arbeit, öffentlicher Verkehr und Parkplätze.

Das Glockenspiel von der Boutique Kurz – Schmuck und Uhren – spielt seine Glockenmelodie.

MP: Warum hast du diese Route für unseren Spaziergang gewählt?

ZB: Ich habe früher am Rennweg gearbeitet. Im 4. Stock ohne Lift übrigens. Und es hat mir hier einfach immer ausserordentlich gut gefallen. Mein Ziel ist es, irgendwann in der Altstadt zu wohnen. (lacht) Mal schauen. Das ist natürlich ein nicht ganz einfacher Wunsch. Weil die Kombination Altstadtwohnung und Lift schwierig ist. Ich werde auch nicht jünger, jetzt bin ich zwar noch ziemlich gut unterwegs, aber ich sollte nicht mehr Treppen steigen.

Ich musiziere ja auch bei der Feuerwehrmusik Zürich-Altstadt

MP: Sopransaxophon, richtig?

ZB: Genau! Ich suche schon lange eine Wohnung hier. Es ist schwierig, aber ich habe es noch nicht aufgegeben! Genau. Deswegen die Route hier. Hier in der Umgebung sind viele Orte, an denen ich oft und gern Zeit verbringe.

MP: Ist die Altstadt, auf Grund ihrer Architektur und auch ihrer Topografie besonders herausfordernd für Menschen mit eingeschränkter Mobilität?

ZB: Die Altstadt ist schon eine Herausforderung. Die Pflastersteine können ein Problem sein. Gerade für Rollstuhlfahrende. Es gibt aber Unterschiede beim Pflastersteinbelag. Es gilt, je flacher, ebener, desto besser. Die Pflastersteine beim Münsterhof sind relativ neu, da ist die Fortbewegung einfacher. Die Steigung, die steilen Gässchen, sind auch schwierig. Die Kirchgasse zum Beispiel. Ja, solche Elemente schränken meine Wohnungssuche auch ein. Trittligasse wäre auch nichts. Ich habe ein Auto. In der Altstadt sind auch die Parkmöglichkeiten beschränkt. Ich erwarte auch keinen Parkplatz vor meiner Altstadtwohnung, allerdings müsste ich kurz davor anhalten können, um beispielsweise etwas auszuladen. Die Trittligasse käme deshalb nicht in Frage, Rennweg oder Zähringerplatz wären geeignet, obwohl, da gibt es politische Bestrebungen diese Parkplätze bei der Zentralbibliothek aufzuheben… Aber das sind halt sogenannte «Zielkonflikte». So wie übrigens auch das Cobra-Tram! Das ist super zum Einsteigen für Menschen mit Mobilitätsbehinderung oder für Menschen mit Kinderwagen, aber für Menschen mit Sehbehinderung ist das Cobra-Tram viel zu leise! Man kann es so leicht überhören! Viele profitieren natürlich davon, dass dieses Trammodell so leise fährt. Aber für blinde Menschen ist es gefährlich.

MP: Womit hat das zu tun, dass trotz vielerlei Bemühungen und trotz eines Diskurses über Zugänglichkeit, der mittlerweile sicher intensiver geführt wird, immer noch viele neue Barrieren geschaffen werden? Oder Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ausser Acht gelassen werden? Sind es am ehesten politische Konflikte, hat das mit Unachtsamkeit zu tun oder mit finanziellen Faktoren?

ZB: An oberster Stelle steht denke ich das fehlende Bewusstsein. Wenn man nicht selber betroffen ist, wenn man im eigenen Umfeld nicht mit Menschen mit Behinderung in Kontakt ist, dann verliert man dieses Thema schnell aus dem Blick. Hier muss die Sensibilisierung ansetzen. Gerade heute habe ich etwas auf Facebook gepostet. Das mit diesen Leihtrottinets ist ein Riesenärger. Für viele Menschen mag das ein tolles Angebot sein. Aber der Fakt, dass man sie nach Gebrauch einfach mitten auf der Strasse stehen und liegen lassen kann, ist ein grosses Problem. Gestern habe ich ein Trottinet fotografiert, welches auf der Leitlinie, auf der Bodenmarkierung, die zur Orientierung für Passant*innen mit Sehbehinderung angebracht ist abgestellt war. Jedes dieser Trottinets kann ein Hindernis sein, eine grosse Verunsicherung in der Fortbewegung von Menschen mit Einschränkungen. Oder ein anderes Beispiel: Dort hinten sind zwei Behindertenparkplätze die ich oft benutze, weil sie grad vor dem Filmpodium sind, das ich als GA-Inhaberin oft besuche. Ich muss so parken, dass sich meine Aussteigseite zum Trottoir hin befindet. Und oft schliesst jemand das Fahrrad an der Stange ab, wo das Schild «Behindertenparkplatz» angebracht ist und unmittelbar am Parkplatz steht. Dies erschwert natürlich das Ein- oder Aussteigen stark oder verunmöglicht es, wenn man auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Dort habe ich auch schon einen Zettel ans Velo angebracht, dass Fahrräder doch bitte nicht mehr so geparkt werden sollen und auch meine Telefonnummer hinterlassen. Darauf hab ich eine nette Nachricht erhalten mit einer Entschuldigung. Ja, den Leuten ist es einfach nicht bewusst! Wenn man sie darauf aufmerksam macht, ist meist Verständnis da. Aber es ist einfach viel Arbeit. Genau: Dort ist das Filmpodium! Ja, wäre echt toll hier in der Nähe zu wohnen. Das Filmpodium ist eh schon mein Wohnzimmer!

MP: Wie steht es, nach deiner Einschätzung, in der Schweiz um die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung?

ZB: In der Schweiz gibt es viele Menschen mit Behinderung, aber sie sind tatsächlich nicht sehr sichtbar. Man sieht sie kaum im öffentlichen Leben. Ich glaube, die fehlende Sichtbarkeit hängt stark damit zusammen, dass es immer noch viel viele Barrieren gibt im öffentlichen Raum. Ein*e Rollstuhlfahrer*in hat keine Lust darauf, jedes Mal um Hilfe zu bitten im Verkehr, beim Restaurant-, Kino- oder Theaterbesuch. Aber ich bin eigentlich zuversichtlich. Es geht was! Nicht immer so schnell, wie ich mir das wünschen würde, aber es geht was. Es ist wichtig, dass in der Stadt Zürich unsere Stelle geschaffen wurde. Ich teile mir mit meiner Kollegin Flavia Frei zurzeit eine 90-%-Stelle. Das ist ein guter Anfang.

MP: Wie sind die Schulen organisiert in Zürich? Wie ist da die Zugänglichkeit?

ZB: Es gibt und braucht natürlich Schulen, die ausschliesslich für Menschen mit Behinderung sind. Aber die Bestrebungen gehen klar in die Richtung, öffentliche Schulen inkludierender zu gestalten. Grundsätzlich steht für alle Kinder die Einschulung in einer Regelklasse an erster Stelle. Das funktioniert auch in sehr vielen Fällen gut. Für Menschen mit Einschränkungen in der Mobilität geht es, wie gesagt, vor Allem darum, baulichen Anpassungen zu machen. Für Menschen mit kognitiven Einschränkungen ist der Weg noch länger. Ob ein Kind mit kognitiver Einschränkung in die öffentliche Schule kann, hängt oft von den Eltern und ihren Ressourcen ab, wie sehr sie ihr Kind unterstützen können, wie viel Zeit und Geld da ist, um diese Art von Begleitung zu leisten. Leider stellt immer wieder auch die Haltung der Schule ein Hindernis dar. Oft ist es Unsicherheit, Unwissen oder Angst vor Überforderung und auch knappe Ressourcen sind ein Thema.

Ach, ich mag die Altstadt, hier ist es wirklich so schön!

Hier oben, um die Ecke ist die Bodega, eine meiner Stammbeizen.

MP: Für die Sensibilisierung einer Gesellschaft wäre das wohl zentral. Von klein auf, schon im Kindergarten und in der Schule, im selbstverständlichen Austausch mit Menschen mit Einschränkungen zu sein.

ZB: Auf jeden Fall. Ich habe das selber erlebt. Ich bin im Thurgau aufgewachsen bei Pflegeeltern. Sie konnten keine eigenen Kinder haben und nahmen drei Kinder aus dem Maghreb auf, alle drei mit Behinderung. In den 70-er Jahren, in einem Bauernkaff im Thurgau… aber es war toll! In dieser kleinen Gemeinschaft waren wir sehr sichtbar und präsent und ein selbstverständlicher Teil des Dorfes. In den 70-er Jahren, mit Migrationshintergrund und Behinderung… aber wir haben einfach dazugehört. Und das ist der beste Weg: Offenheit, Zugänglichkeit, Sichtbarkeit…das ermöglicht Begegnungen, baut Berührungsängste ab oder lässt sie gar nicht erst aufkommen.

MP: Und dadurch steigert sich ja wahrscheinlich auch die allgemeine Achtsamkeit...

ZB: Genau.

Man kann aber auch niemandem vorwerfen, den Fokus nicht immer auf die Bedürfnisse der Anderen zu haben. Letztens hat mich jemand, den ich nicht besonders gut kenne gefragt, ob ich noch lange an Krücken gehen muss. Und ich habe geantwortet: Ja, ich hoffe, das Leben lang. Für mich ist das etwas Positives. Ich möchte so lange wie möglich ohne Rollstuhl auskommen. Aber mein Gegenüber erschrak und hat sich dann entschuldigt.

Mir wurde gesagt, ich würde mit 40 einen Rollstuhl brauchen. Jetzt bin ich 53 und hoffe, noch eine Weile so weiter machen zu können. Vor Allem, weil es wirklich zu viele Orte gibt, die ich dann nicht mehr besuchen könnte oder wenn, dann nur mit der Hilfe anderer.

Hallo! (grüsst einen Passanten)

Wir kommen beim Stüssihof an.

ZB: Das ist auch ein schönes Plätzchen. Hoi! Bisch scho do? Hoi zäme! (grüsst erneut einige Menschen)

Hier hat sich während des Lockdowns ein Treffpunkt etabliert. Jeden Abend, zwischen fünf und sieben, kamen hier Menschen zusammen, mit Abstand natürlich und unverbindlich, um gemeinsam ein Bier zu trinken. Vor Allem für ältere Menschen war das wichtig. Und ich denke, diese neue Tradition wird sich halten.

MP: Man merkt echt, dass das dein Ort ist

ZB: Ja, wirklich!

Wir kommen beim Zähringerplatz an.

ZB: Hier gibt es keine Parkplätze für Menschen mit Behinderung. Und auch die gewöhnlichen Parkplätze sind schwierig. Diese Metallstangen am Boden, welche die Parkplätze eingrenzen machen es für Rollstuhlfahrer*innen fast unmöglich, hier auszusteigen! Ich muss mal bei der zuständigen Stelle nachfragen, wozu es die braucht.

Hier war ich auch oft während meiner Studienzeit, bei der Zentralbibliothek. Allerdings eher in der Musikabteilung. Dort sind nicht so viele Studierende, die die Plätze belegen. Im Hauptgebäude muss man super schnell sein, um einen Platz zu ergattern.

Kennst du den Lesesaal der ZB-Musikabteilung?

MP: Nein, da war ich noch nie. Aber ich lerne so viel Neues über Zürich bei diesen Spaziergängen!

ZB: Ja, da oben ist es wirklich schön. Und es gibt einen Lift.
Und dort ist mein zweites Wohnzimmer, d’Bar.
Und das Musée Visionnaire, hier bin ich auch oft.
«Outsider Art und Art Brut». Hier wird zum Beispiel auch Kunst von Menschen mit kognitiven Einschränkungen ausgestellt.

Ach, es geht mir echt das Herz auf.

Hallo ihr! (wieder begrüsst Zineb Benkhelifa Menschen, wir halten inne zum Schwatz)

Ja, das ist mein Quartier. Und nach dem Interview gehe ich mich dann gleich am Stüssihof dazusetzen.

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