Alternative Routen

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Treffpunkt: Central, Zürich
Route: Vor der Polybahn, zur Uni hochschauend um über Bildung zu sprechen. Dann durch den HB, den Platzspitz. Dann entlang dem Sihlquai bis zur ASZ. Dann den Bus 32 und Tram 14 zum Berninaplatz, um beim Migrationsamt zu enden.

Malek Ossi, Student der Sozialen Arbeit in Luzern, wohnhaft in Zürich, Aktivist. James Bantone fotografiert. Marta Piras interviewt.

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MO: Um anzufangen über Mobilität und Zugänglichkeit zu sprechen, möchte ich zuerst die Stadt Zürich an sich ins Auge fassen. Also, unsere erste Station ist: Zürich. Ich gehöre zu denjenigen, die das Glück hatten, gesund hier anzukommen. Während jeden Tag hunderte von Menschen im Mittelmeer sterben, im Versuch, unter Anderen Orten, hier anzukommen. Ich bin bei Alarmphone dabei, einem Aktivist*innennetzwerk, welches versucht, zwischen Menschen auf dem Meer in Not und den jeweiligen Küstenwachen zu vermitteln. Wir sind international organisiert und eine der wenigen Anlaufstellen für Menschen in Not auf dem Mittelmeer. Ich höre jeden Tag von Situationen, wo es um Leben und Tod geht oder bin direkt mit Geflüchteten auf dem Meer in Kontakt. Deswegen wollte ich nochmals betonen: Wir sind hier und jetzt in der Schweiz, in Zürich. Ein Ort, wofür Menschen den Tod in Kauf nehmen, um hierher zu gelangen.

MP: Du sprichst von «Stationen» weil du unseren Spaziergang ganz klar geplant hast und uns an Orte führen wirst, die relevant sind, um in der Stadt Zürich über Migration nachzudenken. Du bietest solche Spaziergänge oder Führungen immer wieder mal an?

MO: Ja, genau. Lass uns hier über die Strasse gehen und uns bei der Polybahn aufstellen. Der schnellste Weg, um vom Central zur Polyterasse hinaufzufahren. Die zweite Station ist nämlich die Universität Zürich.

Mir ist es sehr wichtig, über die Uni zu sprechen, da Bildung, unter Anderen, einer meiner Schwerpunkte, in der aktivistischen Arbeit ist. Paulo Freire sagt: «Bildung kann nie neutral sein.» Sie ist entweder ein Mittel um Menschen zu unterdrücken oder ein Instrument um sich zu ermächtigen, ein Instrument der Partizipation.

Es war immer mein Traum, hier in der Schweiz weiter zu studieren. Aber es ging nicht, meine Matura wurde hier nicht anerkannt. Ich komme aus Syrien, das Bildungssystem ist dort anders. Zuerst hatte ich mir überlegt, am «Schnupperprogramm» der Universität Zürich für Geflüchtete teilzunehmen. Das Programm besteht darin, dass man als geflüchtete Person sechs Monate lang die Vorlesung einer Studienrichtung besuchen kann. Aber dann fragte ich mich: Was soll das bringen? Ich kann dort hingehen, und zuhören, darf aber keine Prüfungen ablegen? Ich darf also dabei sein, mich aber nicht beteiligen? Ich hab mich dann dagegen entschieden. Stell dir vor, ich zeige einem Kind eine Schoggi. Lege die Schoggi vor dem Kind auf den Tisch und sobald das Kind die Hand danach ausstreckt, nehme ich sie ihm wieder weg. Klar wird das Kind sauer auf mich sein.

MO: Schade eigentlich. So viele Geflüchtete Menschen, die ihren Beruf wegen fehlender Anerkennung ihrer Zeugnisse nicht nachgehen können. Das ist ein unglaubliches, unausgeschöpftes Potenzial. Wie soll man von einer praktizierenden Ärztin verlangen, die Matura zu wiederholen? Und finanziell ist es halt auch schwierig. Man zahlt viel, um die Matura nachzuholen. Und eigentlich sagt man Menschen damit durch die Blume: Du bist nicht fähig dazu, hier zu arbeiten. Ich könnte bis morgen früh darüber weitersprechen, aber lass uns weitergehen! Es gibt verdammt viele Orte, über die ich sprechen möchte, aber man muss auch Prioritäten setzen.

Unsere nächste Station ist der Hauptbahnhof Zürich.

Das war der erste Ort in Zürich, den ich vor fünf Jahren gesehen habe, als ich hier angekommen bin. Riesig, ich verlaufe mich immer noch.

Der HB war sehr wichtig für mich. Ich habe zu Beginn sehr viel Zeit hier verbracht, weil ich keinen Zugang zu Internet hatte. Und am Bahnhof kann man sich für eine Stunde gratis einloggen. Ich habe hier mit meinen Eltern und Freunden telefoniert. Aber auch hier ist es nicht immer einfach. Man sieht es ja, die Polizei ist hier sehr präsent, und auch die Bahn-Securitas. Ich habe so viele rassistische Kontrollen gesehen, zum Glück selber nicht so viele erlebt. Es ist mir so oft passiert, wenn ich mit anderen geflüchteten Menschen am Bahnhof war, dass wir weggebeten wurden. Das sei ein Treffpunkt und Durchgangsort, man könne sich hier nicht so lange aufhalten. Aber für wen ein Treffpunkt? Für wen ein Durchgangsort? Für uns doch auch? Ja, die Jagd auf’s Internet. Das kann man sich wohl fast nicht vorstellen, dass nicht alle Zugang zu Internet haben.

MP: Abgesehen vom Zugang zum Internet ist der HB ja auch einer der wenigen überdachten und wettergeschützten Orte in Zürich, wo man Zeit verbringen kann, ohne zu konsumieren.

MO: Da sprichst du einen wichtigen Punkt an. Der HB ist oder sollte so ein Ort sein. Theoretisch kann ich hier stundenlang sitzen, ohne einen Kaffee zu trinken. Aber die Realität sieht anders aus. Es wäre aber so wichtig, solche Orte zu haben. Nicht alle haben die Mittel dazu, sich in Zürich einen Kaffee zu leisten. Man ist mit eingeschränkten finanziellen Mitteln sehr schnell aus der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen. Ich hasse das Thema Geld. Aber man kommt nicht drum herum. Mit den 300, 400 Franken die man monatlich hat, während der Zeit, in der man als geflüchtete Person erst vorläufig aufgenommen ist, oder noch mitten im Asylverfahren steckt, kann man sich keinen Kaffee leisten und kein Internet.

Die Kontrollen, die permanente Angst, dass du von hier weggeschickt wirst, haben mich auch immer wieder verunsichert. Racial Profiling ist in Zürich, und am Hauptbahnhof speziell, ein grosses Thema.

Für Menschen, die keine Papiere haben, oder einen negativen Asylentscheid ist der Bahnhof übrigens Tabu. So viele wurden hier kontrolliert und festgenommen. Das spricht sich rum. Es gibt viele alternative Routen, die man lernt zu gehen in Zürich.

Nächste Station: Platzspitz.

Auch ein öffentlicher Ort, gleich beim HB, hinter dem Landesmusem, an der Limmat. Im Sommer ist es schön, hier Zeit zu verbringen, sich hinzulegen, zu baden. Aber auch hier können sich nicht alle gleich frei bewegen und fühlen. Der Platzspitz hat ja eine lange und schlimme Geschichte. In den 80-ern, 90-ern war hier die offene Drogenszene Zürichs. Und ich würde sagen, hier wird immer noch viel gedealt. Deswegen ist die Polizeipräsenz hoch. Wenn man hier mit einer Gruppe von People of Color Zeit verbringt, kann man sicher gehen, dass die Polizei einen kontrollieren wird. Ich habe das hundertmal mitbekommen. Klar gibt es hier Menschen die dealen, klar gibt es Menschen, die hier konsumieren. Aber nicht alle Finger sind gleich, sagt man auf Arabisch. Was hier passiert, das ist Schikane.

MP: Ist der Platzspitz denn aussergewöhnlich, was Polizeikontrollen angeht?

MO: Es fällt mir hier schon vermehrt auf, aber ich würde sagen, auf der Langstrasse oder auf der Bäckeranlage ist es ähnlich.

MP: Man muss eigentlich im Seefeld spazieren gehen, um in Ruhe gelassen zu werden.

MO: (lacht) Ja das stimmt! Da hab ich tatsächlich einen Monat lang gewohnt und es stimmt. Da wird man nicht kontrolliert, oder mir ist es da auf jeden Fall nie begegnet.

MP: Wie ist Zürich, im Vergleich zu anderen Orten, für geflüchtete Menschen?

MO: Asylsuchende, die einen F-Ausweis haben dürfen die Gemeinde, wo sie untergebracht sind, nicht wechseln. Es gibt Asylzentren an Orten, wo es nicht mal einen Supermarkt gibt. Aber wenn du die Gemeinde verlässt, kannst du mit einer Busse von 800 Franken belegt werden. Wenn du jeden Tag nur 8 Franken, 8.50 bekommst, kannst du dir das einfach nicht leisten! Zürich ist als grosse Stadt, als Ort mit vielen Möglichkeiten im Vergleich echt gut!

MP: Und bietet auch mehr Möglichkeiten zum Austausch?

MO: Ich spreche jetzt kurz über mich, um Beispiele zu geben. Ich war zuerst in Zürich in einem Durchgangszentrum und dann in einem kleinen Dorf, in der Nähe von Winterthur. Wir waren auf einem Hügel, sehr isoliert. Wir hatten nicht mal eine Bushaltestelle bei uns in der Nähe. Und ungefähr 20 Minuten Gehentfernung zum nächsten Dorf. Da war ich schon immer neidisch, auf die Menschen, die in Zürich untergebracht waren. Ich konnte mir nicht immer leisten, ein Busticket zu kaufen. Und schwarzfahren wollte ich auch nicht. Da bestätige ich doch nur wieder das Vorurteil: Der Ausländer hat kein Ticket.

MP: Die Vorteile davon in Zürich zu leben, scheinen offensichtlich. Man hat mehr Angebot, mehr Möglichkeiten, trifft auf mehr Menschen, auf eine diversere und vielleicht offenere Gesellschaft? Stimmt das so?

MO: Absolut. In einem kleinen Dorf werden alle Menschen begrüsst, aber nicht alle Asylsuchenden. Das habe ich selber erlebt. Ich habe versucht «Grüezi» zu sagen, aber oft einfach keine Antwort gekriegt. Hab ich nicht die gleiche Würde wie andere Menschen? Das hat mich umgebracht. Wir waren wie Tiere in einem Zoo. Die nonverbale Kommunikation, wie man angeschaut wird…

In einer Stadt wie Zürich ist die Bevölkerung durchmischter. Man ist weniger leicht erkennbar als «Fremde*r». Und ich muss sagen: Ich liebe Zürich!

MP: Warum?

MO: Ich bin hier heimisch. Ich laufe die Langstrasse entlang und werde bestimmt zehn Menschen begrüssen. Ich kenne mich hier aus und kenne viele Leute. Das gibt mir das Gefühl, hier aufgenommen zu sein, dazuzugehören. Zürich ist meine Heimat. Jetzt fragst du dich: Was ist Heimat, was heisst das. Für mich ist das der Ort, wo ich mich wohlfühle, wo ich Freund*innen hab, wo ich Leute kenne…

MP: Wir sind bei der ASZ angekommen.

MO: Ich würde den Leser*innen vorschlagen, sich über die Geschichte der ASZ zu informieren. Ich werde jetzt nicht bei der Gründung anfangen, sondern mehr meinen persönlichen Bezug erzählen. Am 16. Juli 2016 war ich zum ersten Mal hier, das war mein erster Deutschkurs. Ich hatte meine ehemalige Sozialarbeiterin gefragt, wo ich denn einen Deutschkurs besuchen könnte. Und sie meinte: «Nein, das dürfen sie nicht. Sie haben keine Aufenthaltsbewilligung.» Ich habe einen Freund gefragt, was wir tun sollten. Wir wollten ja Deutsch lernen. Und er so: «Komm, wir gehen in die Gratisschule.» Stellte sich heraus, Gratisschule, das ist die Autonome Schule Zürich. Wir sind da hin. Und ich habe geweint, als ich den Ort gesehen hab. Alles so provisorisch und improvisiert. Ich dachte: Hier werde ich niemals Deutsch lernen, das ist keine gute Schule. Wenn du mich jetzt fragst, sag ich dir: Das ist die beste Schule, auf der ich je war. Die ASZ hat mich ermächtigt und hat mir das Gefühl gegeben, ich kann hier auch etwas bewegen. Ich kann mich politisch betätigen, auch wenn ich nicht abstimmen darf. Die ASZ hat mir das Gefühl gegeben, dass ich auch hier in der Schweiz ernst genommen werden kann, dass ich gehört werden kann.

MO: Hier ist unser Kaffee. Ein Treffpunkt für alle. Der Kaffee kostet 50 Rappen, wenn du kein Geld hast, ist das auch ok. Hier ist das Projekt «Essen für alle». Während der Corona-Zeit wurden die Bedingungen für viele Menschen noch prekärer. So schlimm, dass das Geld nicht mal mehr für Essen reichte. Wir haben 2'000 Pakete pro Woche verteilt. Dieser Ort ist verdammt wahnsinnig wichtig.

MP: Wird die Papierlosen-Zeitung auch hier gemacht?

MO: Ja, dieses Jahr hatte ich wegen des Studiums keine Zeit mehr, aber in den letzten drei Jahren habe ich dort geschrieben. Ich beschreibe manchmal die Papierlosen-Zeitung auch als «Ort» oder als «Raum». In den Golfländern, gibt es (physische) Räume, wo du reingehen kannst, wenn du wütend bist und alles kaputt schlagen kannst. Für mich ist die Papierlosen-Zeitung auch so ein Raum. Ohne physische Gewalt, nicht dass du mich falsch verstehst! Aber ein Ort, wo ich meinen Unmut äussern kann. Ich bin verdammt wütend, ich muss etwas sagen. Das ist eine der wenigen Plattformen, wo ich mich äussern darf und kann.

MP: Jetzt nehmen wir den Bus und fahren zum Berninaplatz zum Migrationsamt. Das hast du als Abschluss vorgeschlagen.

Angekommen vor dem Migrationsamt, sehen wir eine lange Schlange von Menschen. Malek kennt viele und begrüsst sie, bevor er weitererzählt.

MP: Warum sind wir hier?

MO: Dass das die letzte Station unseres Spazierganges ist, hat einen persönlichen Grund. Hier kriegt man als geflüchtete Person Reisebewilligungen. Wenn man es geschafft hat, einen B-Ausweis zu kriegen, darf man wieder aus- und einreisen. Das war für mich lange nur ein Traum. Ein Reisedokument beantragen, ins Ausland gehen, in die Ferien fahren. Meine Schwester besuchen. Sie wohnt in Deutschland. Als sie ein Kind bekommen hat, konnte ich sie nicht besuchen. Ich wurde zuerst nur vorläufig aufgenommen, hatte in den letzten vier Jahren einen F-Ausweis. Man sollte einfach das Recht haben, seine Familie zu besuchen. Das sollte ein Grundrecht sein. Aber das war mir nicht möglich. Seit September vom letzten Jahr habe ich einen B-Ausweis. Da konnte ich endlich hierherkommen, eine Reisebewilligung beantragen und meinen Traum erfüllen.

F und B, das sind Buchstaben. Aber ich kann es kaum beschreiben, wie sehr das deine Freiheit, dein Dasein bestimmt. Je nach dem was für einen Buchstaben du hast, hast du ein anderes Leben.

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