Freundin Ä und der Kapitalismus

von Anaïs Meier
erschienen am 07. April 2020

Meine Freundin Ä ist Ärztin und seit das Coronavirus in der Schweiz ist, ist sie nicht viel anderes, deshalb nenne ich sie hier Ä. Ä arbeitet in einem der grössten Krankenhäuser der Schweiz als Infektiologin.

Anfang März 2020: Um ihre Patient*innen nicht zu gefährden, verhält sie sich so, wie sich alle Menschen der Risikogruppe verhalten sollten (mit der Ausnahme, dass sie zum Arbeiten raus muss). Ä sagt, sie habe sich zu hundert Prozent dem Kampf gegen das Coronavirus verschrieben. Ein Sozialleben werde sie bis auf weiteres sowieso nicht haben und wenn sie Berichte aus Italien anschaue, habe sie eigentlich auch keine Lust darauf. Ä sagt: «Ich lebe jetzt erst mal nur dafür, diesen Arschsiech Coronavirus zu bodigen.»

Im Krankenhaus, in dem Ä arbeitet, mussten sich die Angestellten Anfang März auf Unvorstellbares vorbereiten, während die Menschen draussen hemmungslos und emsig ihre Handflächen aneinander rieben. Im Krankenhaus wurde derweil vorgerechnet, wie viele von ihnen in den nächsten Wochen und Monaten in etwa sterben werden, halt abhängig davon, wie lange die Bevölkerung draussen weiterkuscheln würde. Sie lernten, wie man Leichen entsorgt, während Leute ins Krankenhaus kamen, um Desinfektionsmittel zu stehlen.

Die Krankenhaus-Angestellten arbeiteten in ihren üblichen Pensen weiter, im Wissen darum, dass das mit den geregelten Arbeitszeiten bald vorbei sein würde. Ä fragte bei der Krankenhausleitung nach, ob es nicht sinnvoll wäre, den Angestellten jetzt eine Art psychologische Betreuung zu ermöglichen, denn das, was früher oder später auf sie zukommen werde, würde traumatisch sein. Die Leitung teilte mit, dass Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiteten, nun mal besonders belastbar sein müssten. Bald darauf wurde zusätzlich mitgeteilt, dass die Chefärzte keinen Kontakt mit infizierten Personen haben dürfen. Es sei wichtig, nun die wertvollsten Mitarbeiter im Betrieb zu schützen.

Unter solchen Umständen normal und ruhig zu bleiben, ist auch für Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, eine Herausforderung. Ä erzählt, dass sich die Pflegerinnen der einen Abteilung als «Kanonenfutter» bezeichneten. Die Traurigkeit, mit der sie das sagten, schnürte Ä die Kehle zu. Die Ärzteschaft einer Abteilung verkündete, ihre sei die wichtigste aller medizinischen Disziplinen, was sie besonders schutzbedürftig mache und seither verbrauchen sie dreimal so viel Schutzmaterial wie die anderen. Eine andere Abteilung scherte komplett aus und weigert sich, mit Infizierten zu tun zu haben. Die Abteilung von Ä bekam währenddessen Post von Kolleg*innen aus Norditalien: Empfehlungen, welche Patient*innen man bei einem grossen Ansturm auf die Intensivstation bringen und welchen man dies verweigern soll. Ä fragt sich, wie sich die Menschen im Krankenhaus verhalten werden, wenn dieser Punkt erreicht sein wird. Und ich frage Ä, woher sie eigentlich die Kraft nimmt, so viel Energie in ihren Beruf zu stecken und gleichzeitig so ruhig zu bleiben. Ä sagt, Corona werde eine riesengrosse Katastrophe für die Welt, aber auch für den Kapitalismus. Und das einzige, wofür es, von ihr aus gesehen, nahezu wert sein könnte, durch diese Krise zu gehen, sei das Ende des Kapitalismus. Und dafür sei sie sofort bereit.