Lockdown Theatre (1): Theater in Quarantäne

von Maximilian Haas und Joshua Wicke
erschienen am 20. April 2020

Unter dem Titel «Lockdown Theatre» versammeln wir theoretische Gedankenexperimente zum aktuellen Zustand. Einleitend dazu Maximilian Haas und Joshua Wicke

Die Theater stehen leer. Niemand steht auf der Bühne und niemand sitzt im Publikum. Die Kasse ist unbesetzt, das Foyer verwaist und womöglich nur durch eine stromsparende Notbeleuchtung erhellt. Vielleicht nagt eine Motte den Vorhang an – ansonsten ist auch hier, im Theater, so wie überall sonst, alles anders zur Zeit des Lockdowns. Auch hier könnte die Leere ein Resonanzkörper sein, um den geschäftigen Betrieb nachklingen und Raum für Transformationen zu lassen, die sich in der unverhofften Stille bemerkbar machen.

Die darstellenden und performativen Künste sind von dieser komplexen Krise – die sich zwischen dem Virus SARS-CoV-2, der Krankheit Covid-19, einer Krise systemischer Vor- und Fürsorge in maroden Gesundheitssystemen, und den massiven Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie aufspannt – besonders betroffen: Die Grundeinheit dieser Kunstformen – die körperliche Begegnung, die Kopräsenz von Künstler*innen und Zuschauer*innen in einem Raum – ist plötzlich zum Risikofaktor geworden. Die Theater bleiben also gerade leer und lassen Raum zum Nachdenken: Die Krise als Unterbrechung der Theaterarbeit im Ganzen bildet die Möglichkeit, die Bedingungen dieser Arbeit in ihrer Abwesenheit zu reflektieren. Was wird uns an der Produktion und Präsentation von Theater gefehlt haben? Und was haben wir im laufenden Betrieb vielleicht übersehen?

In der jetzigen Situation wird beispielsweise auf einen Schlag eine andere Form der Kopräsenz spürbar: Die Anwesenheit der Viren, Bakterien und anderen mikrobiologischen Wesen innerhalb und ausserhalb der menschlichen Körper. Da diese unter der menschlichen Wahrnehmungsschwelle angesiedelt sind, einer anderen Grössenskala von Raum und Zeit angehörig, konnte man gut übersehen, dass wir Menschen auch im Theater nie unter uns waren. Diese neue Evidenz stellt die Körperkonzepte der Moderne in Frage: Statt die Durchlässigkeit, Offenheit und Verletzlichkeit des menschlichen Körpers zu betonen, imaginierte sich der bürgerliche (männliche, weisse) Körper, der unter anderem im Theater gebildet werden sollte, als immunisiert gegen seine materielle Umwelt. Bei allen Bemühungen der Kontrolle von «matters out of place» (Mary Douglas), war das Theater immer auch ein Ökosystem, das nicht nur menschliche Wesen beherbergte. Das Unsichtbare wird momentan auf eine neue, zumeist angstbesetzte Art spürbar und wird das Dispositiv des Theaters (als theatron, Schaustätte) vielleicht nachhaltig ändern.

So hat die Versammlung ihre Rolle als Symbol politischer Ermächtigung der Vielen an das social distancing abgegeben. Solidarisches Handeln mit den verletzlichen Teilen der Gesellschaften heisst nun, den öffentlichen Raum als Ort der Zusammenkunft zu meiden. Überhaupt wird darüber deutlich, wer immer schon ausgeschlossen war von der Art und Weise der Öffentlichkeit, die das Theater herstellt: Kranke und Menschen mit Behinderungen, die auf Isolation angewiesen sind oder denen die Wege in die Veranstaltungsorte versperrt sind. Die Versammlung in der Begegnungsstätte Theater funktionierte auch vor der Krise nicht für jede*n. Auch aus feministischer Sicht erweist sich die theatrale Öffentlichkeit als ausgesprochen lückenhaft: Die dem Theater eigene Form der Repräsentation schliesst nämlich jene alltäglichen kitchen politics, auf die Denker*innen wie Silvia Federici im Anschluss an feministische Kämpfe hingewiesen haben, weitgehend aus. So bringt auch hier die Corona-Krise einen Umstand gesamtgesellschaftlich zur Geltung, der marginalisierten Positionen lange schon bekannt war: Der häusliche Raum ist ein politisches Feld.

Andererseits bildet diese Krise eine ökonomische Herausforderung insbesondere für die selbstständigen Künstler*innen, vor allem in der freien Szene. Sie arbeiten derzeit unter Hochdruck daran, ihre künstlerische Tätigkeit unter Bedingungen der physischen Isolation und digitalen Distribution neu zu erfinden, um wenigstens ein paar der Aufträge anders erfüllen zu können, die ihnen für das laufende Jahr verloren gehen. Und während etwa bildende oder schreibende Künstler*innen weiter ihrer Tätigkeit nachgehen können, auch wenn sie diese erst nach der Krise vermarkten können, so ist mit dem Paradigma der Kopräsenz im Theater jede Ausübung künstlerischer Tätigkeiten ausgeschlossen. Das bedroht die Diversität von künstlerischen Ausdrucksformen und ist einer der Gründe für die Fortsetzung von Theaterpraxis mit digitalen Mitteln. Trotzdem: Etwas fehlt dabei! Was genau, wird herauszufinden sein.

Deutlich ist bislang nur: Die gegenwärtige Krise äussert sich als eine tiefgreifende Veränderung der Zeit, des Raums und der Materialität von Öffentlichkeit. Womöglich ist die Ausbreitung von SARS-CoV-2 und Covid-19 die erste weltweite Gesundheits- und Versorgungskrise, die in Echtzeit publik wurde. Die Informationen und Meinungen sowie die Ängste, die sie schüren, gingen dem Virus vielerorts voraus und verdichten die Zeiterfahrung während dieser Krise. Auch verengt sich zwar der Raum auf die eigenen vier Wände, dehnt sich aber zugleich digital wie sozial aus: Es bilden sich neue Netzwerke, die physisch Naheliegenden geniessen kein Primat, alte Freund*innen sind einem plötzlich wieder nah: Das physical distancing ist gleichzeitig social convergence. Der gewöhnliche zwischenmenschliche Erfahrungsraum jedenfalls scheint weitgehend suspendiert: Einerseits weitet er sich durch unser Kommunikationsverhalten, aber auch schier durch die globale Dimension der Pandemie aus, andererseits zeitigt diese eine Reihe mikrobiologischer und mikropolitischer Effekte, die menschliche Wahrnehmungsschwellen unterschreitet.

Bereits in den neunziger Jahren, also im Hinblick auf ganz andere Krisen, hat die belgische Dramaturgin Marianne van Kerkhoven vorgeschlagen, das Verhältnis zwischen dem Zwischenmenschlichen im Theater und der society/world at large in den Begriffen minor und major dramaturgies zu fassen. «We could define the minor dramaturgy as that zone, that structural circle, which lies in and around a [theatre] production. But a production comes alive through its interaction, through its audience, and through what is going on outside its own orbit. And around the production lies the theatre and around the theatre lies the city and around the city, as far as we can see, lies the whole world and even the sky and all its stars.» Entscheidend dabei ist, dass die Sphären von minor und major dramaturgies dabei nicht getrennt sind, sondern im Austausch stehen: «The walls that link all these circles together are made of skin, they have pores, they breathe. This is sometimes forgotten.» Dieser Tage geht dies nicht vergessen. Die Durchlässigkeit der Grenzen von Personen, Institutionen, Gesellschaften etc. steht im Fokus, was teils vernünftige, oftmals völlig hirnrissige Versuche begründet, diese zu schützen. Während sich die Krankheit Covid-19 dabei durchaus im menschlichen Mass abspielt und auch die Massnahmen zu ihrer Vorbeugung vor allem die Organisation menschlicher Gesellschaften, wenn auch im globalen Rahmen, betrifft, spielt sich das Virus SARS-CoV-2 zugleich unter- und oberhalb der menschlichen Wahrnehmbarkeit ab: Nur 120 bis 160 Nanometer gross, kann es unbemerkt zwischen den Körpern verkehren und verursacht damit Infektionsketten, die verschiedene Spezies durchziehen und den Planeten umrunden. Die prozessuale Verknüpfung mikroskopischer Ereignisse in eine Sequenz bedeutungstragender und wirklichkeitskonstitutiver Elemente kann als Narration begriffen werden. So schreibt das Virus eine, seine Geschichte auf Ebene der major dramaturgies. Ob und wie sich diese Geschichte auf das Theater auswirkt, ob und wie sie sich dort re/präsentieren lässt und welche Rückwirkung dies auf unser Verständnis der viralen Prozesse haben wird, bleibt abzuwarten. Es ist aber wahrscheinlich, dass – ebenso wie bei der anderen major Krise unserer Zeit, dem Klimawandel – die klassischen Mittel der minor dramaturgies dazu nicht geeignet sein werden. Im Vorgriff auf künstlerische Darstellungsmittel der Krise im Theater nach der Krise sollen in dieser Schriftenreihe – im Medium des Texts – dramaturgische Anpassungen vorgenommen werden.

Die Textsammlung, der dieser Text voransteht, verfolgt die Absicht, die gegenwärtige Situation durch das Medium des Ästhetischen im Theater zu begreifen. Wie wirken sich ein Virus, eine pandemische Krankheit und das Theater aufeinander aus? Die Texte wenden sich der Krise nicht frontal zu, sondern berühren sie tangentiell, ohne sich dem Informations- und Meinungsregime, das diese mit sich bringt zu unterwerfen. Es geht hier also vielleicht im Grunde darum, über den Gegebenheitsterrror der ersten Krisenwochen hinauszugehen und eine ästhetische Reflexion und Spekulation über Sars-CoV-2 und Covid-19 zu üben, die aus sich aus der Quarantäne neue Denk-, Handlungs- und Spielräume imaginiert.

Wir freuen uns auf die Beiträge von Bojana Kunst, Augusto Corrieri, Sandra Umathum und Maxi Wallenhorst zu dieser Reihe und bedanken uns schon jetzt dafür!