Das grosse Loch

von Lucien Haug
erschienen am 05. Mai 2020

Ich bin mit vielen anderen kürzlich neben das grosse Loch gezogen. Das war eigentlich nicht beabsichtigt – ich ging ja davon aus, dass ich gleich wieder abhauen kann, denn ich hatte ja noch was vor an dem Abend. Und abgesehen davon war ich schon öfter dagewesen und das hat nie lange gedauert. Die meisten Leute um mich herum waren besser ausgerüstet als ich, das sah ich gleich, die hatten Feldstecher dabei und Funktionsjacken und völlig übermotivierte Campingkocher mit ineinander steckbaren Pfannen. Da waren sogar welche, die hatten sich richtig eingerichtet beim grossen Loch, mit Dach über dem Kopf und so weiter und das machte mich dann schon misstrauisch, so eine regelrechte Anbauschlachtdramatik.

Ich hatte nichts dabei ausser das, was ich halt loswerden musste. Was ich - wie alle anderen - an den Rand des grossen Lochs stellte, dem ich einen Schubs gab und zuschaute, wie alles von der Tiefe verschluckt wurde. Was flog da nicht alles von allen Seiten in das grosse Loch: Berufe, grosse und kleine Träume, ein bisschen Geld, Freizeit, Kinderbetreuungsplätze, ja sogar ganze Schulen und Theater (dass ich mich fragte, wie die die dahingehievt hatten), Geschirr, noch mehr Geld, Beziehungen, Schlaf, Fussballmatches, einiges an Geduld, aber auch hässliche Sachen wie Krankheiten, Langeweile oder schlechte Schulnoten, wo die Leute jubelten als das alles runtersauste.

Und ich wollte schon gehen, als so eine Prepperin ausgerechnet auf mich zukam und mir den Eiertanz zeigen wollte. Da dachte ich: Ich gehe jetzt schön nach Hause, bitte jetzt keinen Eiertanz hier auf den Deprivulkan. Aber da habe ich gesehen wie die alle angefangen haben mit dem Eiertanz. Der ging ganz schön knapp am Rand des grossen Lochs entlang und die tanzten den alle, das war echt dumm, aber auch gefährlich, gut, es war halt ein Eiertanz und es ging nicht lange, da tanzten alle diesen Eiertanz, ganz schön knapp am Rand des grossen Lochs. Und so blieb ich eine Nacht.

Ich blieb auch eine zweite und noch ein paar Eiertänze mehr. Da kamen immer mehr Leute aus allen Richtungen zum grossen Loch. Ich weiss gar nicht, ob ich jemals so viele Leute gesehen habe, die gleichzeitig das gleiche tun. Es waren Leute mit Ringen unter den Augen, Masken über dem Gesicht und vielen Sorgen. Und ich begann mir auch Sorgen zu machen, denn das grosse Loch wurde immer grösser. Um zu begreifen warum, brauchte ich einige Tage. Da gibt es nämlich so ein Gesetz. Wenn etwas hineinfällt in das Loch, dann wird das Loch grösser. Aber das wusste ich ja zuerst nicht und ich staunte, dass ich nach einigen Nächten gar nicht mehr auf die andere Seite des grossen Lochs sehen konnte, so gross war es geworden, so viele Leute versenkten so viel im grossen Loch und jede Nacht mussten wir alle aufpassen, dass wir nicht mitten in der Nacht in die Bedeutungslosigkeit fielen.

Das einzige, was gegen die Sorgen half, war, den anderen den Eiertanz beizubringen. Da war eine Familie, die hatten ihre Laptops, Smartphones und Kopfhörer mit sehr viel Hallodrio hinuntergeworfen. FUCK HOMEOFFICE hatten die Eltern gerufen und die Kinder irgendetwas mit FUCK HERR FREIBURGHAUS oder so ähnlich. Die Kinder waren dann schon auch enttäuscht, dass sie sich von der Euphorie ihre Geräte hatten entreissen lassen, aber mit dem Eiertanz brachte ich sie auf andere Gedanken.

Jetzt bin ich da. Kinder sind wirklich am schwierigsten. Was soll ich ihnen denn antworten, wenn sie mich fragen, was denn das für ein grosses Loch sei? Und warum man jetzt hier lebt? Und warum jede Nacht jemand aus freiem Willen ins Nichts springt? Soll ich ihnen von den Erinnerungen erzählen, die das Loch schon geschluckt hat, von den Eiszeiten? Von den Computern, den Funsportgeräten, den Hoffnungen, den ausgestorbenen Tieren, den schlechten Witzen, den Cabriolets, den Jahren des Wartens, den Büchern, Pässen und Lebensinhalten? Den Menschen? Und nichts davon ist wiedergekehrt, wetten. Natürlich, das Verlorengegangene wird ersetzt. So verlangt es das Traurigsein. Aber alles, was etwas Verlorenes ersetzt ist nie so wie das Verlorene. Es will so sein wie das Verlorene, aber das heisst ja, dass es alles sein könnte, nur nicht das Verlorene und dass das Verlorene verloren gegangen ist und mit jedem Versuch es zu ersetzen erst recht verloren geht. Und das macht noch ein bisschen trauriger. Und am Schluss sind wir sowieso alle im grossen Loch. Wir haben hier nur etwas. Das ist meine Vermutung. Den Eiertanz. Aber das kann ich denen ja nicht so sagen. Ich glaube es ja selber nicht.