Lockdown Theatre (4):
Die Rache des Hustens

von Sandra Umathum
erschienen am 06. Mai 2020

Kurz nach der Corona-bedingten Schliessung der Theater teilt bei Facebook jemand einen Cartoon aus der Times: Darauf zu sehen ist ein älterer Herr im Sessel, der, als er in der Zeitung liest, dass alle Theateraufführungen und Konzerte abgesagt sind, seine Frau und vor allem sich selbst fassungslos fragt, wohin er jetzt zum Husten gehen soll.

Das Lustige an diesem Cartoon ist, dass er die Einstellung der Spielbetriebe ausgerechnet aus der Perspektive einer Person kommentiert, die in den Theatern und Konzertsälen zum Kreis der unbeliebtesten Gäste zählt, zu denen, die an diesen Orten als besondere Nervensägen gelten. Autoren wie Heinrich Böll oder Thomas Bernhard haben ihnen ein literarisches Denkmal gesetzt; nach einigen von ihnen ist sogar eine Hustenart benannt, der sogenannte Theater- oder Konzerthusten. Natürlich ist das Böse an dem Cartoon aber auch, dass der Herr im Sessel selbst schon mit dem Virus angesteckt sein könnte, der die Schliessung der Theater bewirkte.

Dieser Tage, in denen viele beschäftigt, wie Versammlung und Zusammensein aussehen wird und wohin wir eigentlich zurückkehren, wenn wir die alten Orte wieder frequentieren dürfen, stellt sich auch die Frage, was uns in den Theatern erwartet, wenn sie ihren Spielbetrieb wieder aufnehmen. Erwartet uns dort dann noch etwas Anderes als neue Stücktexte, in denen die gemachten Erfahrungen verarbeitet worden sind? Und mehr als die pragmatische Anpassung alter Inszenierungen an die veränderten Bedingungen? Meine Hoffnung ist, dass die Theaterpause daneben für ein Nachdenken über die kommenden (und das heisst die bisherigen) Zuschauer*innen genutzt wird – und das nicht nur im Blick auf die Abstände, die künftig zwischen ihnen eingerichtet werden müssen. Vielleicht bietet hierbei das Husten gerade jetzt, da es sich als typisches Covid-19-Symptom in die Diskussion gebracht hat, keine schlechte Orientierung.

Menschen husten (oder niesen) überall. Im Theater löst das Husten (oder Niesen) jedoch gleich eine zweifache Intervention aus: Es mischt sich in ein künstlerisches Geschehen ein und zugleich in die Prozesse seiner Rezeption – und genau das macht es zu einer in der konkreten Aufführungssituation oft lästigen Angelegenheit. Aus einem grösseren Blickwinkel betrachtet ist das Husten jedoch ein ziemlich tolles Phänomen schon deshalb, weil es ihm gelingt, mit minimalem Aufwand die Funktionsweisen des Theaters, in dem es sich ereignet, scharfzustellen.

Zahlreiche Schauspieler*innen haben ihre Meinung zum Husten im Theater geäussert, manche direkt von der Bühne herunter, darunter Klaus Kinski, der einem Publikum angedroht haben soll, «nach Hause» zu gehen, wenn es «nicht aufhört zu husten» (und von sich behauptete, er «würde eher ersticken», bevor ihm als Zuschauer ein Husten über die Lippen kommt). (1) Oder Angela Winkler, die in einer Hamlet-Vorstellung einem penetrant hustenden Menschen im Parkett «einen richtig schönen Theaterhusten zurückgegeben» hat. (2) Oder Ulrich Matthes, der sich im Theater «zur Wehr» zwar nie «mit mehr als bösen Blicken» setzt, in einem Interview aber erklärt, dass er, wäre er im Besitz einer Kalaschnikow, «die unsichtbar ist», sie «möglicherweise schon das eine oder andere Mal betätigt» hätte. (3) Einer der wenigen, die sich über hustende Zuschauer*innen freuen können, ist Benny Claessens. Immerhin bedeute es, dass sie noch am Leben seien. (4)

Die Reaktionen aufs Husten sind ein guter Gradmesser in Bezug auf die Grosszügigkeit gegenüber unvorhergesehenen Störungen im Ablauf. Und sie offenbaren einiges vom Theaterverständnis dessen, der da spricht. Denn ja, Hustengeräusche können Störungen dies- und jenseits der Bühne provozieren – und doch wäre daran zu erinnern, dass bereits mit dieser Feststellung ein Theaterdispositiv aufgerufen ist, das Hustengeräusche im Publikum vor allem als unvermeidbares Übel kennt.

Im Unterschied etwa zu Shakespeares’ Zeiten, als Menschen nicht allein für die Bühnenshow ins Theater gingen und sich mitunter mehr für die Interaktionen mit den anderen Besucher*innen interessierten als für die Darbietungen der Schauspieler*innen, tradiert die Mehrheit der heutigen Theater und Inszenierungen den Respekt für eine Kunst, der es gelingt, die Aufmerksamkeit und Konzentration eines Publikums möglichst bruchlos auf sich zu versammeln. Die Unbeliebtheit von Hustengeräuschen verrechnet sich aber nicht immer nur mit ihrer Produktion von Ablenkung. Der Regisseur Max Reinhardt hasste sie vielmehr, weil er sie selbst bereits für ein klares «Zeichen der Unaufmerksamkeit» hielt, funkt es direkt ins Spiel hinein, sogar für das «Vorzeichen einer katastrophalen Ablehnung». (5) Hustende verraten sich in dieser Sicht als längst Abgelenkte, als Zuschauer*innen, die den Zustand der vollkommenen Absorption nicht erreicht haben. Denn Menschen, die «sich im Bann des Spieles befinden», müssten nach Reinhardts Überzeugung auch bei heftigster Erkältung weder husten noch niesen. Was wiederum heisst, dass die Vermeidung von Unaufmerksamkeit in den Verantwortungsbereich der Schauspieler*innen gestellt ist und Qualität wie Erfolg ihrer Arbeit zugleich an ihrem Vermögen hängen, die Menschen im Auditorium vom Husten abzuhalten.

Es lässt sich nur erahnen, wie es in den Theatern zugegangen ist, bevor es sich das bürgerliche Theater zur Aufgabe gemacht hat, durch die strenge Disziplinierung des Publikums alle Unaufmerksamkeiten und potenziellen Ablenkungen vom Bühnengeschehen auf ein Minimum herunterzupegeln. Bis dahin war es nichts Ungewöhnliches, dass Zuschauer*innen während der Vorstellung rauchten, assen, sich unterhielten oder durch die Gegend liefen. Oder, wie eine Notiz für das Jahr 1788 belegt, ein Stück, das ihnen nicht gefiel, oder Schauspieler*innen, mit deren Leistung sie nicht zufrieden waren, laut «aushusteten». (6) Und was kam stattdessen? Eine Versammlung von Menschen, die in langen, engen Stuhlreihen still im Dunkeln sitzen und durch die Verpflichtung auf Konzentration und Aufmerksamkeit im selben Mass miteinander verbunden wie voneinander getrennt sind. Bis in die Gegenwart stehen wir da mit der Vorherrschaft einer Anordnung im doppelten Wortsinn. Zu ihr kann sich das Husten fast nur als Zumutung ins Verhältnis setzen, als Affront gegen den Kunstcharakter einer Aufführung und gegen eine Erfahrung, die sich als ästhetische und eben nicht zuerst als soziale vollziehen soll. Es wäre gut, die asozialen Anteile dieser Anordnung im Blick zu behalten, beispielsweise die Mechanismen der Exklusion, auf denen sie beruht und die sie für ihren Erhalt ständig reproduziert – eine Exklusion, der es sich verdankt, dass für Menschen mit chronischem Husten Theaterbesuche als Option für die Abendgestaltung oft ausscheiden.

Das Amüsante wiederum ist, dass sich die Geschichte des Hustens im Theater seither als so etwas wie die Geschichte seiner Rache erzählen lässt. Im selben historischen Moment, als disziplinarische Massnahmen das Verhaltensspektrum des Publikums quasi dem Nullpunkt anzunähern beginnen, befördern sie überhaupt nämlich erst das Husten zu einem Theaterereignis mit fast subversiver Kraft: Hustengeräusche sind eine gegen jede Massregelung resistente Grösse. Sie bewirken das unerwünschte Heraustreten Einzelner aus der Menge. Sie nerven (und sind darum lustig). Und weil ihre zufälligen, von ihren intentionalen Varianten nicht immer leicht zu unterscheiden sind, gehören sie, immer noch, zu den diskretesten Mitteln, die den Zuschauer*innen für eine spontane Missfallensbekundung geblieben sind. Eigentlich muss man fürs Husten im Theater schon deshalb Sympathie haben. Doch die Ironie der Geschichte ist damit nicht zu Ende. Denn die Disziplinarmassnahmen selbst sind es, die darüber hinaus der Hervorbringung eines Hustens zuarbeiten, der sich als «Theaterhusten» einen Namen gemacht hat (und etwas anderes ist, als das von Angela Winkler dafür Gehaltene). Der Theaterhusten ist ein überfallartiger Reizhusten, unproduktiv, weil unverschleimt und ohne Auswurf. Pneumologen zufolge entsteht er bevorzugt in Situationen mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit, erhöhter Aufmerksamkeit, innerer Anspannung und dem gleichzeitigen Versuch der Geräuschvermeidung. Der Theaterhusten zeugt von einem Dasein im Unentspannten, das sich – und hier schlägt die Gesetzmässigkeit des Dispositivs zurück – weder im Akt des Hustens noch durch dessen Unterdrückung angemessen erleichtern kann.

Wie wird Versammlung und Zusammensein aussehen, wenn die Theater wieder geöffnet sind? Ich stelle mir vor, dass diese von weissen, männlichen Protagonisten gemachte Geschichte einen anderen Verlauf nimmt. Ich stelle mir vor, dass es dann eine Anerkennung für die Lücken und die Schwierigkeiten darin gibt, etwa dafür, dass das Disziplinierungsprogramm des bürgerlichen Theaters einen Zuschauer projizierte, der seinerseits nicht nur weiss und männlich war, sondern ausserdem einen gesunden Körper hatte. Der kranke Zuschauer*innenkörper markiert hier eine diskursive Leerstelle bis heute. Aber im Auditorium sitzen Menschen, die Körper haben; manche davon sind angesteckte Körper oder ansteckende. Ich stelle mir vor, dass Hustengeräusche demnächst anders wahrgenommen werden und dabei etwas Anderes ins Denken tritt. Ich stelle mir vor, dass wir eine Relativierung des Narrativs vom Husten als Störfaktor hinkriegen, ohne in die Fallen der Stigmatisierung zu stolpern. Ich stelle mir vor, dass die Theater sich daran beteiligen. Ich stelle mir vor, dass sie deshalb nicht nur überlegen, wie sich die Anzahl der Zuschauer*innen verringern und gleichzeitig die Distanz zwischen ihnen vergrössern lässt. Ich stelle mir vor, dass sie es dabei nicht belassen, sondern auch über Inszenierungen nachdenken, die Husten- und andere Geräusche auszuhalten wissen, bzw. über ein Theater, das sich für Möglichkeiten von Versammlung interessiert, die nicht durch eine strenge Anordnung zusammengehalten werden müssen.


(1) Interview von Reinhard Münchenhagen mit Klaus Kinski in der vom WDR produzierten Talkshow Je später der Abend! (Juli 1977).

(2) «Ich bringe Erde und Meer» (Interview von Wolfgang Höbel und Joachim Kronsbein mit Angela Winkler). In: Der Spiegel, 24.02.2001.

(3) «Wann möchten Sie zur Kalaschnikow greifen, Herr Matthes?» (Interview von Friederike Haupt mit Ulrich Matthes). In: FAZ, 26.10.2010.

(4) Hanna Voss: «Krisenmomente in der ‚Guckkastenbühne’. Ein Gespräch mit Benny Claessens zu Hello Useless – For W and friends». In: Beate Hochholdinger-Reiterer, Géraldine Boesch, Marcel Behn (Hg.): Publikum im Gegenwartstheater. Berlin: Alexander (itw : im dialog) 2018, S. 147-152, hier: S. 150.

(5) Max Reinhardt, Nachlass, zit. nach Alexander Lechner: «Applaus». Publikumskundgebungen vom Affekt zur Konvention. Fragmentarische theaterhistorische Untersuchungen des Beifalls. Diplomarbeit. Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien 2009, S. 33.

(6) Nachdem 1788 das Pochen als Ausdruck der Missbilligung verboten worden war, umging man dieses Verbot für kurze Zeit dadurch, dass man «nun den Schauspieler oder das Stück ‚aushustet’». Zit. Nach ebd., S. 145.