Alle lachen, und niemand weiss, worüber

von Lukas Bärfuss
erschienen am 03. Dezember 2019

Ein Gedankenexperiment zu Der Kirschgarten: Lukas Bärfuss über Tschechows Absichten, eine Komödie zu schreiben.

Am 17. Januar 1904, einem Sonntag, zeigte das Moskauer Künstlertheater in der Kamergersky Gasse zum ersten Mal das Stück Der Kirschgarten von Anton Pavlovitsch Tschechow, der just an diesem Tag vierundvierzig Jahre alt wurde und am Ende der Vorstellung die Ovationen des Publikums entgegennahm. Der Schriftsteller war da schon dem Tode nahe, und war da ein Ebenbild jener Karikatur, die ein Kritiker mit der Bemerkung, er sehe aus wie ein wandelnder Leichenwagen, von ihm gezeichnet hatte. Kein halbes Jahr später sollte Tschechow der Tuberkulose erliegen, in Badenweiler, einem Kurort im Schwarzwald, wohin er Ende Mai mit seiner Frau gereist war, schon sehr geschwächt und entgegen des Rats seiner Freunde und Ärzte.

Es war aber gewiss nicht nur seine Krankheit, die Tschechow am Premierenabend behelligte und ihm die Feierlaune verdarb, es lag auch an der Inszenierung, die in keiner Weise seinen Vorstellungen entsprach. Dabei war das Künstlertheater unter der Führung von Konstantin Sergejewitsch Stanislawski und Wladimir Iwanowitsch Nemirovitsch-Dantschenko die führende Bühne Russlands, vielleicht sogar das erste Theater Europas. Gerade Stanislawski, der in Der Kirschgarten schliesslich die Rolle des Gaev spielen sollte, besass einen grenzenlosen künstlerischen Ehrgeiz und wollte dem grassierenden Dilettantismus den Garaus machen.

Doch die Inszenierung, die zwar ein unbeschreiblicher Triumph war und 757 Vorstellungen erlebte, fusste in einem kolossalen Missverständnis: Tschechow begriff Der Kirschgarten eindeutig als Komödie. Wer das anders sehe, unter anderem der Regisseur Nemirovič, so schreibt er nach der Premiere an seine Frau Olga, habe einfach das Stück kein einziges Mal aufmerksam gelesen.

In den über hundert Jahren seit der Uraufführung, haben Menschen auf der ganzen Welt dieses Stück gelesen, aufgeführt, gespielt, wissenschaftlichen Untersuchen unterzogen, und doch bleibt eine Frage mehr oder weniger ungeklärt, wo sich nämlich Tschechow in seinem Stück das Gelächter vorgestellt hat. Humor hatte er, so viel scheint sicher. Davon zeugt Ivan Bunin, sein Freund, Schriftsteller-Kollege und spätere Nobelpreisträger. Witze, absurde Spitznamen, Lügengeschichten - in seinen letzten Jahren sei Tschechow darin unermüdlich gewesen. Und dann berichtet Iwan Bunin eine interessante Beobachtung: Tschechow habe zwar das Lachen geliebt, aber sein schönes, ansteckendes Lachen habe er nur gelacht, wenn jemand anderes etwas Lustiges erzählt habe. Er selbst, so Bunin, sagte die komischsten Sachen ohne das geringste Lächeln.

Ohne das geringste Lächeln? Eine Komödie ohne Lachen? Was sollte das für einen Sinn ergeben? Vielleicht dachte Tschechow überhaupt nicht ans Gelächter, oder jedenfalls nicht an das Gelächter des Publikums. Stellt sich nur die Frage, wer da über wen lacht, und überhaupt, wovon dieses Stück Der Kirschgarten überhaupt handelt und was daran komisch sein könnte.

Man hat Der Kirschgarten selten als Komödie, häufiger als Metapher für die menschliche Natur verstanden oder als Ausdruck für den Niedergang einer aristokratischen Gesellschaft, die nach der Befreiung der Bauern und der Abschaffung der Leibeigenschaft nicht nur materiell, sondern auch geistig verarmte. Die tüchtigen, ehrgeizigen Lopachins übernahmen das Zepter, allerdings nur für kurze Zeit. Schon im Jahr nach der Uraufführung sollte die erste von drei Revolutionen ausbrechen, die mit dem zaristischen Regime endgültig Schluss machten.

Was soll daran komisch sein? Und doch endet dieses Stück tatsächlich mit einer bösen, einer grausamen Pointe. Die Pointe, das ist die Spitze, sie sticht, aber das Opfer ist keine der Figuren, nein, der Dramatiker lacht über uns, die Zuschauer.

Während vier Akten haben wir darauf gehofft, jemand möge sich gegen das drohende Schicksal auflehnen. Wir haben Lopachin und seine Verzweiflung geteilt, wie alle vor dem drohenden Verlust die Augen verschliessen. Wir wünschten es der Ranewskaja, dass sie ihr Landgut behalten könnte. Der Dramatiker uns auf den Leim geführt, aber tatsächlich sind zum Schluss die Figuren froh, die Erinnerungen zurücklassen und endlich von diesem grässlichen Landgut mit den Kirschbäumen abhauen zu können, weg, fort, in ein neues Leben. Die einen reisen nach Paris, die anderen gehen ihren Geschäften nach, eine andere wird eine neue Stelle antreten - für alle geht das Leben weiter, jeder hat einen Ausweg aus der moribunden Existenz gefunden. Fast alle. Zum Schluss werden, wie es in einer der letzten Regieanweisungen heisst, alle Türen geschlossen. Die Bühne sei leer, so schreibt Tschechow, als ganz zuletzt der alte Diener Firs, den man vergessen hat, zu seinem letzten Auftritt erscheint.

In einem Brief an Stanislawki, lange vor der Fertigstellung des Stückes, schrieb Tschechow, der Schauspieler Višnevskij, werde viel und laut lachen - und natürlich werde niemand wissen, worüber. Wenn sich jemand im Publikum also fragen sollten, über wen sich Anton Tschechow in Der Kirschgarten lustig macht, der braucht sich nur zu vergegenwärtigen, wer zuletzt in diesem verfallenen und überlebten Landgut sitzen geblieben ist, eingeschlossen in der Sehnsuchtsfalle, wer da genau einem alten Diener beim Sterben zusieht, unfähig, sich aus den nostalgischen Anwandlungen zu befreien und die Kirschbäume zu retten, die uns doch, und nur uns, so am Herzen liegen, und die jetzt, so hören wir es, bereits gefällt werden, während anderswo, ohne uns, das andere, das neue Leben beginnt.

Der Text ist die gekürzte Fassung eines Essays von Lukas Bärfuss fürs Programmheft von Kirschgarten.