Die Zeit bleibt stehen

erschienen am 22. Januar 2020

Ein Erfahrungsbericht zu Der Kirschgarten

Weil ein erneuter Absturz oder vielleicht sogar Suizidversuch Ljubas befürchtet wird, kommt ihre Familie erstmals seit langem wieder zusammen. Alle sorgen sich um die psychisch instabile Ex-Grossgrundbesitzerin, eine globale Nomadin, die einen schweren Rucksack – nicht ohne Grund mit Psychopharmaka vollgepackt – zu tragen hat. Im Sinne einer Intervention überzeugen sie sie zu einer stationären Therapie und begleiten sie dabei.

Als Kinder- und Jugendpsychiaterin interessiert mich an dieser Familiengeschichte besonders das Schicksal der jüngsten Tochter Anja. Wiebke Mollenhauer spielt überzeugend und berührend eine junge, sympathische Frau, die sicher ebenso hilfsbedürftig ist, wie ihre Mutter, sich aber um diese kümmern muss. Wie geht es ihr mit dieser Parentifizierung?

Im Laufe dieser Intervention sehen wir den ersten Versuch einer Gruppentherapiesitzung. Geleitet wird sie von Dr. Firs, ein gemütlicher und zugänglicher Psychiater im Dandy Tweed Look. Die eröffnenden Fragen des Kollegen sind ganz gemäss Lehrbuch, aber ein Gespräch mit emotionaler Resonanz kommt jedenfalls nicht zustande.

Die Sitzung hat kein erkennbares Ziel und bleibt zwecklos, weil der wahre Grund für diese Familienzusammenkunft gegenüber Ljuba verschwiegen werden muss (Der Kirschgarten wird hinter ihrem Rücken verkauft). Und obwohl Dr. Firs die Vorgeschichte bestimmt kennt, gelingt es ihm nicht, etwas in der Familiendynamik in Gang zu setzen.

Beim ansatzweisen Versuch eine Familienskulptur zu formen, zeigt sich die Umkehrung der Mutter-Tochter Beziehung und emotionaler Unreife der Mutter bildlich: Anja stellt sich weit vorne an den Bühnenrand, Ljuba möchte ihre Tochter von hinten umarmen, aber es gelingt ihr nicht und sie kauert stattdessen neben Anja auf den Boden; sie sagt zwar, sie nehme die Tochter wieder zurück in ihren Bauch, aber es wirkt, erbärmlich, als sei sie selber ein Kleinkind, das am Bein der Mutter zieht.

Hier hätte ein*e engagierte*r Psychiater*in anknüpfen müssen:

Dr. Firs: Anja – möchten Sie Ihrer Mutter etwas sagen?

Anja: Nein. Ich möchte, dass sie aufsteht. Dass sie mich in den Arm nimmt und mir sagt, dass alles gut wird.

Dr. Firs: Ljuba, sagen Sie ihrer Tochter, dass sie wichtiger ist als der verdammte Kirschgarten! Dass, Sie Ihre eigene Tochter nie aufgeben werden, dass sie keine Schuldgefühle haben muss, weil der Kirschgarten hinter ihrem Rücken verkauft wurde!

In der Realität darf ein*e Psychiater*in natürlich nicht so offensiv und unneutral intervenieren, das wäre absolut grenzüberschreitend und definitiv unprofessionell. Aber sieht Dr. Firs denn nicht, was hier gespielt wird? Soll ein Psychiater so ein Theater, wie es die Familie für Ljuba veranstaltet, unterstützen, eine solche Familienlüge mittragen? Das ist ein ethisches Dilemma, mit dem wir in unserem Beruf ständig konfrontiert sind.

Ljuba hat offensichtlich ein schweres Trauma. Ihr im Teich des Kirschgartens ertrunkener Sohn taucht auf der Bühne auch immer wieder auf, wird aber sinnbildlich nie direkt angesprochen. Deshalb ist der Kirschgarten hoch emotional verknüpft. Dass das Aufrechterhalten einer Illusion für Ljuba gut sein soll, ist eine Illusion. Dass man psychisch kranken Menschen keine Konfrontation mit der Realität zutrauen soll, ist vielleicht gut gemeint, aber naiv. Natürlich geht das nicht in einer akuten Krise, aber das ist bei Ljuba in dem Moment nicht der Fall.

Die Heimlichtuerei bedeutet vielmehr eine Infantilisierung der Mutter. Es findet eine Bevormundung statt, die letztlich Aggressionen auch bei der Tochter auslöst, weil ihr ein adäquates Gegenüber fehlt: sie muss die Mutter schützen, weil diese ein wildes, dekadentes Leben führt; sie muss die Mutter umsorgen, die immer weg ist; sie soll die Mutter lieben, die eigentlich ihre Rivalin ist; sie muss Verantwortung für das Familiengut übernehmen.

Dass der Verkauf des Kirschgartens nicht in eine Familientherapiearbeit integriert werden konnte, ist eine verpasste Chance für einen Entwicklungsprozess.

Aber so ist es ganz Tschechow: Innerlich bleibt alles beim Alten. Mutter und Tochter bleiben traumatisiert, in der Umkehrung und ihren jeweiligen Schuldgefühlen gefangen.