Zu diesem Abend

Unglückliche Liebe und die Freiheit in der Kunst – sind das die zentralen Themen von Die Möwe? In Tschechows Drama treffen sich zwei Künstler*innen-Generationen in einem Landhaus am See und streiten über die Kunst, das Leben und die Welt. Der junge Schriftsteller Kostja will das Theater verändern, seine Mutter Arkadina verwehrt ihm Anerkennung und Unterstützung. Doch während sich Mutter und Sohn und deren Liebhaber scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen, ähneln sie sich zugleich in ihrem Intensi­tätsstreben und im kalten Blick auf die jeweils andere Generation.

Regisseur Christopher Rüping verabschiedet sich mit dieser Inszenierung aus Zürich. Seine Möwe ist kein Aufruf zur Theaterrevolution, sondern eine Standortbestimmung. Denn auch hiervon spricht das Stück: vom genauen Vermessen der eigenen Position, der Frage nach dem eigenen Platz und vom Abschiednehmen. Dabei lädt dieser Abend auch Sie selbst ein, zu überprüfen, wo Sie stehen: Für wen ist das Theater, für die Al­ten, die Jungen oder die dazwischen? Sind Sie zufrieden, mit den Rollen, die Sie in ihrem eigenen Leben spielen? Und wovon wollen Sie Abschied nehmen?

Inszenierung
Christopher Rüping
Bühnenbild
Jonathan Mertz
Kostümbild
Tutia Schaad
Licht
Gerhard Patzelt
Dramaturgie
Moritz Frischkorn
Alle Beteiligten anzeigen
Audience Development
Mathis Neuhaus
Touring & International Relations
Sonja Hildebrandt
Künstlerische Vermittlung T&S
Zora Maag
Produktionsassistenz
Dominic Schibli
Bühnenbildassistenz
Karl Dietrich
Kostümbildassistenz
Renée Kraemer
Produktionshospitanz
Anna Vankova
Hospitanz Kostümbild
Selma Jamal Aldin
Mitarbeit Dramaturgie
Lisa-Maria Liner
Inspizienz
Dayen Tuskan
Soufflage
Ursula Hildebrand / Katja Weppler / Gerlinde Uhlig-Vanet
Übertitel Einrichtung
Anne Hirth PANTHEA
Übertitel Übersetzung
Ambika Thompson PANTHEA
Übertitel Fahrer*innen
Josephine Scheibe / Maya Scharf / Holly Werner / Aika Baumgartner
Weniger Beteiligte anzeigen

Für die Inszenierung wurde die Übersetzung von Thomas Brasch von Christopher Rüping teilweise adaptiert. 

 

Unterstützt von Zürcher Kantonalbank & Else v. Sick Stiftung

In Zusammenarbeit mit LAS Art Foundation

 

Aufführungsrechte: Suhrkamp Verlag AG Berlin

 

Julia Riedler wird für die Vorstellungen am 30. Januar die Rolle von Wiebke Mollenhauer übernehmen.

Zu dieser Inszenierung

Sieben Menschen sitzen auf einer Bank in einem leeren Theaterraum. Sie warten. Dann beginnen sie das Stück Die Möwe von Anton Tschechow – zu sprechen. Zunächst werden der Titel und der Name des Autors genannt, die Regieanweisung wird zitiert. Dann beginnt das Stück. Die sieben Menschen auf der Bühne sind die Schauspieler*innen Ann Ayano, Maja Beckmann, Moses Leo, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer, Lena Schwarz und Steven Sowah. Sie unternehmen einen Versuch: Sie spielen, dass sie Die Möwe spielen. Oder spielen sie einfach Die Möwe? Jedenfalls geraten diese Menschen immer mehr in das Stück hinein, in diesen Kosmos aus Selbstentzündung, Lebenswut, Kunstwollen, Liebesunglück und Angst vor dem eigenen Verschwinden. Können wir ihnen folgen, kehren sie zurück?

Anton Tschechow schrieb das Stück Die Möwe, das erste seiner grossen Dramen, im Jahr 1895. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Stücks ist Tschechow 35 Jahre alt und bereits ein berühmter Prosa-Autor. An seinen Verleger Suworin schreibt er am 21. November: «Ich habe mein Stück abgeschlossen. Ich habe es forte begonnen und es pianissimo beendet – gegen alle Regeln der dramatischen Kunst. Es ist eine Novelle geworden. Ich bin eher unzufrieden als zufrieden, und wenn ich mein neugeborenes Stück lese, gelange ich einmal mehr zu der Überzeugung, dass ich absolut kein Dramatiker bin.» Lange bevor dieser Begriff geprägt wurde, erfindet Tschechow mit der Möwe eine Form des proto-autobiographischen Theaters, das zugleich stark mit einer Reflektion über das Theatermachen selbst verbunden ist. (Für weitere Lektüren zu Anton Tschechow empfehle ich die beiden kurzen Bücher: Helga Schubert über Anton Tschechow von Helga Schubert, Kiepenheuer&Witsch, 2023 und Anton Chechov von Natalia Ginzburg, Klaus Wagenbach, 2009.)

Für unsere Inszenierung ist zunächst interessant, dass Tschechow sich in alle Figuren seines Stücks hineinliest. Tatsächlich scheint er zu allen Figuren seiner Möwe ein fast persönliches Verhältnis zu haben: Die Figur der Mascha – das Punk-Girl des Stücks – trägt den Kosenamen seiner Schwester, der Tschechow Zeit ihres Lebens deren Ehewünsche ausgeredet hat. Nina – die junge Schauspielerin – ist ein Vexierbild unterschiedlicher Liebhaberinnen und Freundinnen von Tschechow, inklusive Referenzen auf echte Medaillons und persönliches Leid. Die ältere Schauspielerin Arkadina ist die prophetische Voraussage seiner eigenen Ehe: Im Mai 1901 wird Tschechow die Schauspielerin Olga Knipper heiraten, die in der berühmten zweiten Aufführung von Die Möwe am Moskauer Künstlertheater des Theatertheoretikers und Regisseurs Konstantin Stanislawski diese Rolle tatsächlich spielen wird, die Tschechow aber während der Niederschrift des Stücks noch gar nicht kannte.

Noch deutlicher ist das Projektionsverhältnis bei den männlichen Figuren des Stücks: Der Lehrer Medwedenko kann als die Verkörperung von Tschechows eigenen Fürsorgepflichten gegenüber Mutter und Schwester gelesen werden. Dorn ist das Fantasiebild seines eigenen Alterns als zufriedener, bewunderter Arzt. (In unserer Inszenierung sind Textteile von Dorn mit der Figur von Medwedenko verschmolzen, die von Steven Sowah gespielt wird.) Der erfolgreiche, arrivierte, aber innerlich verunsicherte Schriftsteller-Snob Trigorin zitiert immer wieder aus Erzählungen, die Tschechow selbst geschrieben hat, und angelt, genau wie dieser, für sein Leben gerne. Und der junge Kunst-Revoluzzer Kostja ist die Verkörperung von Tschechows eigenem Wunsch nach Erneuerung in der Kunst und im Theater. Vielleicht, so eine erste Hypothese, lädt das Stück also auch uns als Theaterschaffende und Sie als Zuschauende dazu ein, eine Positionierung auf Probe vorzunehmen: Mit welcher Figur identifiziere ich mich? In welche Figur kann ich mich hineinlesen?

Dabei macht das Stück uns diese Identifizierung zugleich schwer und leicht, weil darin alle Rollen zunächst als holzschnittartige Karikaturen gezeichnet sind, aus denen erst über den Abend hinweg dreidimensionale Figuren erwachsen, mit denen Empathie möglich ist. Vor der Möwe hatte Tschechow vor allem Schwänke, d.h. komödiantische Einakter geschrieben. Auch seine abendfüllenden Dramen betitelt der Autor als Komödien, obwohl sie heute für ihre tiefe, bedeutungsvolle Darstellung inner-psychischer Konflikte bewundert werden, dabei tragische Verstrickungen darstellen und in mehreren Fällen, so auch in Die Möwe, mit dem Selbstmord einer der Hauptpersonen enden. Am Ende des Stücks bewertet Trigorin den Selbstmord Kostjas und damit auch das Stück insgesamt, als «neues Genre, ein Fall dazwischen. Zwischen Tragödie und Komödie.» (Ich zitiere aus der Übersetzung von Thomas Brasch, die auch die Grundlage dieser Inszenierung ist, die aber von Christopher Rüping teilweise adaptiert wurde. Mehr dazu weiter unten im Text.) In unserem Fall lesen wir das Verhältnis von Komödie und Tragödie als eines, das sich über den Abend hinweg verschiebt: weg von einem distanzierten, kalten Blick auf die Figuren, hin zu Verständnis, Identifikation, Verhängnis.

Tschechow gelingt es, die Zuschauer*in einerseits über seine Figuren lächeln zu lassen, dabei zugleich unser Mitgefühl zu wecken. Die Literaturhistorikerin Elsbeth Wolffheim schreibt dazu: «Das, was seine Stücke zu Komödien stempelt, ist nicht etwas die komödiantische Übertreibung der Lustspiele Molières oder Shakespeares; vielmehr definiert Tschechow das Komische als das Unangemessene. Komisch sind seine Dramenfiguren, weil sie an der Realität vorbeileben, ein gestörtes Verhältnis zu Realität haben. Eben dadurch wirken ihre Emotionen, Handlungen und vor allem ihre Unterlassungen komisch.» (Elsbeth Wolffheim, Anton Cechov, Rowohlt, 1982, S. 107) In Die Möwe praktiziert Tschechow eine durchaus sympathische Form der Bosheit, die darin besteht, sich über Alle und Jeden, v.a. aber seine Figuren lustig zu machen. Schon der Titel ist eine parodistische Anspielung auf Ibsens Wildente. Das Stück im Stück, das der junge Theaterautor Kostja aufführen lässt, stellt die ironische Formulierung eines vermeintlich «russischen» Symbolismus dar. Vor allem aber parodiert Tschechow in der Figur des privilegierten, egozentrischen Trigorin sich selbst. Tschechow zeigt immer wieder die Inkongruenz zwischen dem Wollen seiner Figuren und deren tatsächlichem Handeln. Insofern also die Figuren der Möwe die Realität ihres Lebens verkennen, erlaubt das Stück den Zuschauer*innen diese «Inkonsistenz zu durchschauen und sich dadurch von den Figuren (zu) distanzieren». (Wolffheim, S. 107) Anders gesagt: Durch das Loch des Witzes pfeift der Wind der Wahrheit.

Gleichzeitig steckt hinter diesem ästhetischen Verfahren ein ethisches Angebot – dasjenige der Rollendistanz. Entgegen einer konventionellen Deutung der Tschechow’schen Dramen als stimmungsvollem Naturalismus gleicht sein theatrales Angebot damit eher demjenigen Bertolt Brechts, ohne von dessen konkreten politischen Zielen bestimmt zu sein: Tschechow möchte, dass wir seinen Figuren mit Distanz begegnen, möglicherweise um uns selbst eine Distanz zum eigenen Leben zu ermöglichen. Zumindest, so legen es unterschiedliche Biographien nahe, praktizierte Tschechow, der eine grausame Kindheit in ärmlichen Verhältnissen durchleben musste, eine strenge Form der fortlaufende Selbstironisierung: «Das Bestreben, eine scheinbar eindeutige Emotion durch genau Beschreibung ins Lächerliche zu kehren, die Wirkung einer Zärtlichkeit mit einem Pfefferminztropfen gleichzusetzen, also die Unangemessenheit von Gefühl und Realität blosszulegen, artet bei Cechov bisweilen in eine Obsession aus. (…) Die gleichsam eingeprügelte Skepsis gegenüber Gefühlen wird, natürlich, umgesetzt in Misanthropie, aber in gleichem Masse wird sie konterkariert durch seinen Sinn für das Komische, dass ihn souverän macht. So wäre also zu differenzieren: Das Komische ist für Cechov einerseits eine Art Mimikry, durch die er sich vor der Aussenwelt tarnt, zum anderen dient sie ihm zur Abwehr von Lüge und Heuchelei.» (Wolffheim, S. 23) In seinen Stücken gelingt es ihm, diese ironische Distanz mit Liebe zu füllen. Behält man zugleich den oben beschriebenen Vorgang im Kopf – der Autor Tschechow liest sich in alle Figuren der Möwe hinein – und versteht ihn gar als Aufforderung, so entsteht ein ethisches Versuchsfeld, in dem sich starke Momente der Identifizierung und Distanzierung balancieren und ergänzen: «Meine Empathie», so scheinen der Autor und sein Stück zu sagen, «umfasst Euch alle, aber ernstnehmen brauchen wir uns deshalb nicht.»

Das hier skizzierte ethische Angebot der Tschechow’schen Dramen scheint wie gemacht für die Inszenierungsstrategien des Regisseurs Christopher Rüping. Dieser arbeitet seit vielen Jahren, oft mit denselben Schauspieler*innen, an einer spezifischen Spielweise, die ganz am Anfang dieses Textes bereits angedeutet wurde: Dabei bevölkern nicht bestimmte Figuren die Bühne, sondern zunächst sind immer die Spieler*innen selbst anwesend. Diese beziehen ihr Spiel auf die reale Situation der Aufführung, d.h. der Begegnung miteinander und mit dem Publikum. In der Live-Situation der Aufführung wird dann ein Vorgang der Annäherung und Einfühlung vorgeführt: Es ist, als ob die Spielenden vor den Augen des Publikums ihre Figuren kennenlernen, um dabei zu beobachten, welche Reaktionen und Emotionen diese Begegnung beim Publikum hervorruft. (Wenn Sie mehr über diese Spielweise erfahren wollen, empfehle ich Ihnen die Lektüre des Interviews mit Maja Beckmann, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer und Steven Sowah weiter unten in diesem digitalen Programmheft.)

In vielerlei Hinsicht entspricht dabei die Methodik dieser Inszenierung dem Inhalt des Stücks. In beiden Fällen begegnen wir einer Gruppe von Theaterschaffenden, die miteinander die Fragen behandelt: Wofür Theater? Machen wir noch weiter und lohnt sich das noch, im Angesicht vielfältiger Krisen? Wem gebührt hier Platz, wer muss Platz machen? Wo stehen wir selbst, als Individuen, als Gruppe, als Institution? Wo standen wir früher und wie wird sich unsere Position in 10, 20, 30 Jahren verändern? Unter dieser Lupe betrachtet, stellt Tschechows Möwe mehr als bloss einen Generationenkonflikt oder unglückliche Liebesverhältnisse seiner Figuren dar. Das Stück offeriert uns ein Gefüge von aufeinander bezogenen Positionen, die wie ein Angebot der möglichen Selbstverortung auf Probe funktionieren. Dieser Tatsache trägt die Inszenierung insofern Rechnung, als alle Figuren aus derselben, mittleren Generation heraus besetzt sind, obwohl die Struktur des Stücks stark auf einer Gegenüberstellung von zwei Generationen beruht. Damit müssen alle Spieler*innen gleichermassen eine Distanz zu ihrer Figur überwinden (zumindest, wenn man konventionelle Besetzungen als Referenz nimmt, bei denen Arkadina und Trigorin oft mit deutlich älteren Spieler*innen besetzt werden als das in unserer Inszenierung der Fall ist), während diese Distanz zugleich zur spielerischen Ressource wird. Auf der analytischen Ebene wird dabei klar, dass sich die Figuren der Möwe genauso sehr ähneln wie sie sich unterscheiden: Alle sind sie auf der Suche nach Anerkennung und Intensität und kreisen dabei vor allem um sich selbst. Auf der ethischen Ebene setzt die Inszenierung den paradoxen Impuls des Autors fort, der zugleich von Distanz und Nähe geprägt ist: Wo die Generationen in der Möwe maximal hart aufeinander blicken, ist diese Inszenierung von einem verständnisvollen Blick auf beide Generationen geprägt.

Noch ein weiterer Aspekt ist wichtig, der zunächst mit der Möwe nichts zu tun zu haben scheint: Da die Intendanz von Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann am Schauspielhaus Zürich zum Sommer 2024 endet, bedeutet diese Inszenierung auch einen Abschied für den Regisseur Christopher Rüping, sowie für die Schauspieler*innen, die mit ihm nach Zürich gekommen sind. Seine Möwe ist von der Frage nach der Vergänglichkeit des eigenen Tuns durchzogen. Zugleich nutzt sie das Angebot der empathischen Ironisierung, welches das Tschechow’sche Stück macht, für eine mehrdimensionale Selbstreflexion:

Je länger das Stück abläuft, desto mehr geben die Spielenden einerseits ihre Distanz zu den Figuren des Stücks auf. Ganz konkret bedeutet das unter anderem: Im 1. und 2. Akt wird fast ausschliesslich der Originaltext in der Übersetzung von Thomas Brasch gesprochen wird, welche in ihrer hypotaktischen Struktur das Tschechow’sche Drama deutlich als Kunstsprache markiert. In ihrem Fortgang aber wird die Inszenierung immer mehr von einer weniger künstlichen Sprachebene durchzogen, die Christopher Rüping in Zusammenarbeit mit dem Ensemble selbst erarbeitet hat. Die Spielenden sprechen den Text des Stücks in ihrer eigenen, alltäglich geprägten Sprache. Sie kommen dadurch ihren Figuren immer näher, verschwinden zuweilen fast hinter deren Silhouetten. Die Möwe, ihre Fabel und Figuren, werden immer stärker zu einer Art Verhängniszusammenhang, dem die Spieler*innen nicht mehr entkommen können. Dieser verhängnisvolle Zusammenhang einer Verstrickung in den Stoff wird u.a. von den luxuriösen Kostümen der Kostümbildnerin Tutia Schaad symbolisiert, welche die Spieler*innen nach und nach anlegen.

Andererseits – und das ist ein komplexer, paradoxer Vorgang – erlaubt sich die Inszenierung über den Abend hinweg zunehmend einen eigenen Zugriff auf das Stück: Je besser die Spieler*innen ihre Figuren kennenlernen, desto stärker wird ihr Impuls, deren Schicksal nicht einfach hinzunehmen, sondern es weiterzudenken. Unsere Inszenierung fragt also, zumindest implizit, auch danach, welche Aspekte des Stücks – aber, darüber hinaus, auch der eigenen schauspielerischen, inszenatorischen oder institutionellen Arbeit – wir möglicherweise hinter uns lassen können und wollen. Ohne zu behaupten, das Stück wirklich verlassen zu können, eröffnet sie einen Horizont auf ein anderes Tun: Theater jenseits der kanonischen Stoffe, jenseits bestimmter Konventionen, jenseits patriarchaler Handlungsmustern, die immer wieder aufgeführt werden sollen, ohne dass ihre vermeintlich kathartische Wirkung jemals wirklichen gesellschaftlichen Fortschritt bedeutete. Es ist dann, als ob Die Möwe (und die darin zentral erhaltene Geschichte einer jungen Frau, die von einem älteren, mächtigen Mann ausgenutzt und fallen gelassen wird) noch einmal aufgeführt werden muss, damit wir uns von bestimmten Aspekten dieses klassischen Dramas verabschieden können.

Einen Horizont aber erkennt man nur vor dem Hintergrund eines Gegenlichts. Und so geht am Ende dieser Inszenierung ein anderes Licht auf: dasjenige des Monds, in der szenographischen Deutung des Bühnenbildners Jonathan Mertz. Was dieser Mond bedeuten könnte, das bleibt offen. Ist er ein Zeichen des Abschieds, vom Zeitalter der Selbstentzündung und -verbrennung und des unbedingten Kunstwillen? Ist er die tragische Erfüllung eines im Stück eingeschriebenen Schicksals (nämlich dasjenige der Figur Ninas)? Oder etwas Drittes? Die Frage danach, wer oder was in dieser Möwe verabschiedet, begraben oder aufgegeben wird, müssen am Ende Sie selbst beantworten. Um diese Frage pointiert zu stellen, dafür aber ist dieser Versuch notwendig: Sieben Menschen sitzen auf einer Bank in einem leeren Theaterraum. Sie warten. Dann beginnen sie zu spielen, dass sie Die Möwe spielen. Oder habe sie etwa einfach Die Möwe gespielt?

«Also baut man sich erstmal das Auto, mit den Rädern und allem Drum und Dran.»

Der Dramaturg Moritz Frischkorn im Interview mit den Spieler*innen Maja Beckmann, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer und Steven Sowah

Moritz Frischkorn (MF): Als wir entschieden haben, Die Möwe zu machen, und Christopher Euch von den Figuren erzählt hat, was habt Ihr damals gedacht habt?

Steven Sowah (SSo): Von Medwedenko habe ich zum ersten Mal von Katinka Deecke (Leitende Dramaturgin am Schauspielhaus, MF) gehört. Da wusste ich noch gar nicht, wer das ist. Und dann haben Christopher und ich telefoniert – Wochen später – und er hat mir erzählt, was diese Rolle beinhaltet. Damals hat er gesagt: «Das wird eine Liebesgeschichte mit Wiebke.» War’s dann aber gar nicht…

MF: Hast Du einen besonderen Bezug zu Tschechow?

SSO: Ich hatte vorher schon ein Stück von Tschechow gemacht, Kirschgarten, aber das war eine Adaption. Wir haben den Text einfach improvisiert. Es hatte nicht wirklich etwas mit Tschechow zu tun. Daher nein, ich hatte keine besondere Vorstellung, was Tschechow bedeutet.

MF: Was bedeuten Die Möwe und Tschechow für Dich, Benji?

Benjamin Lillie (BL): Als wir für Gier geprobt haben, haben wir darüber geredet haben, dass wahrscheinlich Möwe unsere nächste gemeinsame Arbeit mit Christopher sein würde. Damals war noch nicht klar, ob das funktionieren kann, weil es im Stück um einen Generationskonflikt geht, d.h. einige Figuren repräsentieren eine ältere, arrivierte Generation und andere eine junge, unverbrauchte Generation. Damals dachten wir: Wir sind irgendwie nicht alt genug für Arkadina und Trigorin, aber auch nicht mehr so jung wie Kostja und Nina. Ich fand es trotzdem gut, Die Möwe zu machen. Einerseits kenne ich Tschechow und hab selbst schon Drei Schwestern am Deutschen Theater gespielt. Die Möwe habe wir in der Schauspielschule als Szenestudium gemacht. Mir kommt es andererseits so vor, als ob es bei Tschechow vornehmlich um Figuren geht, die man einfach vom Blatt spielen kann. Und diese Idee ist durch diese Arbeit komplexer geworden ist – eine Arbeit, in der ich mich mit 38 Jahren ganz anders mit den Figuren des Stücks auseinandersetze, als ich es damals als Anfänger getan hätte, der natürlich unbedingt so eine Rolle wie Kostja spielen wollte. Ich merke, ich bin ganz woanders in meinem Leben als Kostja im Stück.

MF: Maja und Wiebke, habt Ihr noch Erinnerungen an den Moment, wo wir uns für Die Möwe entschieden haben?

Maja Beckmann (MB): Ich hatte erstmal total Schiss, als klar war, ich spiele Arkadina. Ich dachte: Das ist eine unangenehme Figur und mir sehr fremd, das muss doch in die Hose gehen. Arkadina steht für eine bestimmte Form von Diven, vor denen ich eher Angst habe und deren Style ich nicht gerne verkörpere. Wenn man also über zwei Generationen spricht, dann bin ich viel mehr bei Nina und Kostja zu Hause.

Wiebke Mollenhauer (WM): Als wir vor einem oder zwei Jahren über das Stück gesprochen haben, da hiess es, ich soll Nina spielen. Ich dachte, die ist ganz schön jung und naiv und will berühmt sein. Ob ich da irgendwie andocken kann, ob das interessant ist? Dann sollte ich zwischendurch Mascha spielen und dachte: Ja, die passt viel eher zu mir. Aber irgendwie hatte ich mich innerlich schon auf Nina eingestellt. Die Person, die ursprünglich Nina spielen sollte, ist ausgefallen und jetzt bin ich zurück bei dieser Figur. Deswegen darf ich auch keine Liebesgeschichte mit Steven spielen…

MF: Maja spielt Arkadina, Benji spielt Kostja, Wiebke spielt Nina und Steven spielt Medwedenko. Könnt Ihr Eure Figuren kurz vorstellen?

MB: Arkadina ist eine berühmte Schauspielerin und hat einen 25-jährigen Sohn. Sie reist zum Landhaus ihrer Schwester Sorina, um dort Zeit zu verbringen. Dabei wird sie von einem Mann begleitet, der so alt ist wie sie selbst und sehr berühmt: Trigorin. Arkadina ist von sich selbst überzeugt, ihr ist schnell langweilig und sie redet am liebsten von sich selbst.

MF: Was hältst Du von dieser Arkadina?

MB: Ich finde sie doof. Arkadina stampft ziemlich empathielos durch die Welt, sie will nur in ihrem Beruf glänzen und das war’s. Das ist bescheuert!

MF: Gibt es etwas, was Dir an Arkadina gefällt?

MB: Eine solche Selbstbezogenheit kann auch entlastend sein. Ich finde es auch cool, wenn man denkt, die anderen sind eigentlich scheissegal. Dann hat man ein leichteres Leben. Ich will zwar nicht so leben und würde es mir nicht antrainieren, aber manchmal gefällt mir das.

MF: Wer ist Kostja, Benji?

BL: Konstantin – oder Kurzform: Kostja – ist der Sohn von Arkadina. Er ist 25 Jahre alt, ein angehender Schriftsteller. Kostja ist in Nina verliebt. Sie ist die Liebe seines Lebens, so beschreibt er das zumindest. Mit ihr macht er ein Theaterstück, das die beiden am Anfang der Möwe aufführen. Darin geht es um andere Theaterformen, jenseits von Figurendarstellung. Kostja ist ziemlich radikal in seiner Kunst, zumindest will er das sein. Aber er steht im Schatten seiner Mutter. Natürlich hegt er eine absolute Abneigung gegen Trigorin, Arkadinas Liebhaber, der ein erfolgreicher Schriftsteller ist. Kostja wohnt auf dem Landgut seiner Tante. Er ist nicht besonders reich, aber kommt aus gutem Haus. Er hängt da rum, am See, und schreibt. Und dann schiesst er Möwen tot, für seine Kunstperformances…

MF: Gibt es Seiten deiner Figur, die Du verstehst?

BL: Vielleicht seine Radikalität? Er steht für das ein, was er sagt. Allerdings dreht er sich wahnsinnig um sich selbst. Er hört nicht wirklich zu, wenn Nina mit ihm spricht, sondern redet die ganze Zeit über sich selbst. Das finde ich schwierig. Und trotzdem gibt es da etwas bei ihm, was ich irgendwie auch gut finde: dass er eine Haltung hat und für etwas einsteht.

MF: Nina, das ist deine Figur, Wiebke…

WM: Nina ist 17 oder 18 und auf dem Land an einem See aufgewachsen. Ihre Mutter ist gestorben. Ihr Vater will nicht, dass sie zur Bohème in die Nachbarschaft geht. Kostja hat Nina für sich entdeckt und eingeladen, mit ihm Theater zu machen. Sie findet diese Welt der grossen Künstler*innen, die Welt von Arkadina und Trigorin, faszinierend. Vielleicht sucht sie damit einen Ausweg aus ihrem kleinen Dorfleben. Die Beziehung zu Kostja ist ambivalent, sie bleibt ihm gegenüber ausweichend. Sie trifft dann auf jeden Fall Trigorin und verliebt sich in ihn. Trigorin sagt ihr ins Gesicht, dass er sie vernichten wird, und sie sagt die Worte: «Das darf alles nicht wahr sein.» Trotzdem reist sie ihm nach, nach Moskau, und verlässt ihre Heimat. Die Frage ist, ob sie seine Prophezeiung wirklich glaubt und deren Konsequenzen in Kauf nimmt, oder ob sie die verdrängt?

MF: Was ist für Dich die grösste Stärke von Nina?

WM: Ich finde sie mutig. Sie geht nicht auf Sicherheit, sondern wirft sich in alles voll rein. Auch am Ende, wenn sie nach neun Jahren wiederkommt und ihre Träume und Illusionen verloren hat, hat sie keine Angst, sich zu zeigen.

MF: Steven, Du spielst Medwedenko. Wer ist das?

SSo: Medwedenko, von Freunden und Kennern auch Amadeus genannt, ist ein Dorflehrer aus bescheidenen Verhältnissen. Bei Tschechow ist Medwedenko eine kleinere Figur, die hauptsächlich dadurch gekennzeichnet ist, dass sie Mascha liebt, aber nicht zurückgeliebt wird. In unserer Version haben wir die Sichtweise und Sätze von Dorn, dem Arzt, dazu genommen. Dadurch hat Medwedenko eine Art Aussenperspektive auf das, was alle anderen Figuren durchleben. Trotzdem lässt er sich davon berühren.

MF: Was ist Medwedenkos Blick auf die anderen Figuren?

SSo: Am wenigsten explizit ist der Blick auf Nina. Sehr eindeutig allerdings ist der Blick auf Arkadina und Kostja. Medwedenko erkennt, worum es diesen beiden Figuren geht: Sie müssen Intensität erzeugen, um sich selbst zu spüren. Sie suchen nach Extremen, um überhaupt das Gefühl zu haben, zu existieren. In allem, was Arkadina oder Kostja tun, geht es ihnen nur um sich selbst. Er nimmt das nicht nur wahr, er bewertet das auch. Es ärgert ihn wahrscheinlich, weil er denkt: Im Leben gibt es so viele andere Probleme und Schwierigkeiten, über die man reden könnte. Warum also treffen wir uns hier, an diesem See?

MF: Für unsere Inszenierung suchen wir nach einer besonderen Spielweise, nach der Ihr mit Christopher auch in früheren Arbeiten gesucht habt, bei der Ihr nicht nur als Figuren auf der Bühne seid, sondern auch als Schauspieler*innen, die sich zu diesen Figuren verhalten können. Könnt Ihr beschreiben, wie diese Spielweise funktioniert?

WM: Ich würde es so beschreiben: Wir versuchen immer, das Hier und Jetzt nicht zu ignorieren, sondern gehen davon aus, dass alle im Raum wissen, dass wir im Theater sind: «Wir, die Menschen auf der Bühne, sind Schauspieler*innen und ihr, die Menschen im Publikum, schaut zu.» Das Publikum muss das Bühnengeschehen nicht als behauptete Welt akzeptieren, in die es sich mit seiner Fantasie hineinbegibt. Stattdessen beginnen wir alle in selben Raum und legen gemeinsam einen Weg zum eigentlichen Konflikt des Abends zurück. In unseren Arbeiten geht es nicht unbedingt um Figuren. Im Fall von Möwe ist das zwar der Fall, weil die Konflikte in den Figuren verankert sind. Trotzdem beginnen wir von einem Hier und Jetzt aus, die Konflikte im Stück zu suchen. Die Form für diese Suche, die müssen wir immer wieder neu erfinden.

MB: Ganz konkret geht es darum, Sätze in den Raum zu stellen und dann zu erleben, wie sie angenommen werden: Was passiert bei meinem Gegenüber oder im Publikum, wenn ich einen bestimmten Satz sage, ohne ihn zu färben oder mit einem Gefühl zu unterlegen?

BL: Dabei ist unsere Frage auf der Bühne: Wozu sagt eine Figur einen spezifischen Satz? Was will ich erreichen? Und nicht: Warum sagt meine Figur diesen Satz? Damit stellt man den Satz eher zur Verfügung, anstatt ihn mit einer Haltung oder Sprechart zu färben. Dieses Wozu, das kennzeichnet unsere Spieler*innen-Ebene. Wir versuchen also nicht, die Psychologie einer Figur zu beglaubigen und ihr Gefühle zu verwalten, obwohl Tschechow gerade zu dieser Form des identifikatorischen Spiels einlädt und verführt. In den Augen des Publikums werden wir trotzdem zu den Figuren, die wir spielen. Aber die Inhalte werden reicher, wenn wir zugleich die Wirkung unseres Spiels beobachten.

SSo: Es ist eigentlich wie in einem Puppentheater: Bei einem konventionelleren Stück hast du nur den Schaukasten und siehst die Bewegung der Puppe und vielleicht noch diese Stränge. Bei uns ist dieser Kasten weggenommen, sodass Du auch die Person dahinter siehst, die die Stränge zieht. Du kannst beiden Bewegungen gleichzeitig folgen, derjenigen der Puppenspieler*in und derjenigen der Puppe. Du siehst beides.

MF: Seid Ihr also zweimal auf der Bühne, als Spieler*in und als Figur?

WM: Nein, beide Ebenen laufen parallel ab. Wir denken auf zwei verschiedenen Ebenen gleichzeitig. Als Schauspieler*in macht man das sowieso, wenn man ehrlich ist. Man verliert sich nie ganz in der Rolle und denkt, jetzt bin ich diese Figur. Man beachtet immer, wann man bestimmte Gänge hat, behält eine Aufmerksamkeit fürs Timing. Hier ist es so, dass diese Vorgänge weniger versteckt ablaufen, dass also die Ebene der Spieler*innen auch Bedeutungsebene und nicht nur Funktionsebene ist, dass man doppelschichtig denkt. Wir nähern uns dabei den Figurenkonflikten irgendwann so an, dass wir zuweilen beide Ebenen nicht mehr auseinanderhalten können. Dann tritt eine Art Welleneffekt ein: Im besten Fall holen uns die Themen und Konflikte des Stoffs im Hier und Jetzt ein. Sie überrollen uns wie eine Welle von hinten und ereignen sich auf einmal real. Der Konflikt füllt dann den ganzen Raum. Dass ist oft emotional, obwohl das Spiel überhaupt nicht auf Emotionalität ausgelegt ist.

MF: Ist das schwierig, so zu spielen?

BL: Ich finde es immer wieder eine besondere Herausforderung. Aber wenn beide Ebenen einrasten, dann bietet dieses Spielsystem eine besondere Form von Freiheit.

MB: Es ist wie beim Autofahren. Das geht am Anfang noch nicht automatisch. Du denkst, erst schalten und dann fahren. Deswegen ist Autofahren anstrengend, bis es ganz automatisch geht. Bis sich diese zwei oder drei Ebenen verselbstständigen, ist es viel Arbeit.

WM: Ja, und es ist auch nicht so, dass Christopher uns ein Auto gebaut hat, das wir lernen müssen, zu bedienen. Der Weg ist am Anfang noch nicht klar. Wir müssen in den Proben den Weg, den das Auto fährt, gemeinsam suchen.

BL: Also baut man sich erstmal das Auto, mit den Rädern und allem Drum und Dran.

WM: Und manchmal bauen wir falsch und dann bauen wir es wieder zurück.

MF: Bedeutet das also, dass die Annäherung an die Figur, die über den ganzen Probenprozess hinweg passiert, während der Aufführung in kondensierter Form auf der Bühne stattfindet?

BL: Auf jeden Fall. Und das Verhältnis zu den Figuren, die man spielt, verändert sich. Mein Verhältnis zu Kostja ist nach sieben Wochen Proben ein anderes als am Anfang. Ich bin viel genervter von Kostja. Mir wird auch immer klarer: Was steht da überhaupt drin, in der Möwe? Was ist das teilweise für eine toxische Art und Weise, Beziehungen zu führen? Und warum drehen die sich so um sich selbst? Was ist denn mit Zusammensein? Diese Fragen kristallisieren sich über den Probenprozess hinweg heraus, man entwickelt gemeinsam eine Expertise für den Stoff. Als Trigorin sagt, dass er Nina vernichten wird, das habe ich anfangs überlesen. Aber es ist bedeutsam, sich damit auseinanderzusetzen. Man muss seine Figur gar nicht lieben. Du musst sie halt verteidigen. Diese Figuren sind einfach da, in der Literatur, und wenn sie sich alle verstehen würden, hätten wir kein Stück.

MB: Am Anfang habe ich auch die Mutter-Sohn-Beziehung nicht toxisch gelesen und die Kälte und diese Unmenschlichkeit nicht so stark empfunden. Das Zwischenspiel von Tragödie und Komödie, das wir gemeinsam entdeckt haben, das allerdings gefällt mir sehr.

MF: Diese Toxizität der Figuren, die entblättert sich in der Inszenierung auch erst nach und nach. Als Zuschauende können wir das beobachten. Steven und Wiebke, hat sich die Beziehung zu Eurer Figur über den Probenzeitraum hinweg auch verändert?

SSo: Ein bisschen. Aber dadurch, dass sich die Figur nicht ständig nach aussen stülpt und man nicht viel über sie erfährt, kann ich relativ viel in Medwedenko hineinprojizieren. In manchen Wochen sehe ich in ihm einen Revoluzzer, der gegen bestimmte Privilegien angeht. In anderen Wochen denke ich, er fühlt sich unwohl mit seiner Position und gibt deswegen auf. Das Verhältnis zur Figur ändert sich, je nachdem was mich in dem Moment beschäftigt. Auf das ganze Stück bezogen: Ich weiss gar nicht, ob es am Probenprozess liegt oder an der Art und Weise, wie Tschechow schreibt, jedenfalls kriegt man die ganze Zeit diesen komödiantischen Vibe. Aber wenn du die Leute beim Wort nimmst, steht doch alles da: Vernichten. Tragische Existenz. Es steht alles da.

MF: Wiebke, wie hat sich Dein Verhältnis zur Figur verändert?

WM: Der Prozess ist noch nicht fertig. Wir führen Nina am Anfang kurz ein und ich zeige, dass ich sie nicht wirklich spielen will. Trotzdem spiele ich ihre Geschichte. Aber es passiert mir nicht, sondern ich forciere und kurble das Geschehen bewusst an. Ich bin nicht das zitternde, x-beinige Opfer, das an der Rampe steht und nass ist, sondern klar und stark. Mein Verhältnis zur Figur hat sich insofern verändert, als ich sie zu mir geholt habe und Nina jetzt viel mehr ist wie ich bin, anstatt dass ich wie Nina geworden bin. Das Ende jedenfalls ist ein anderes als im Stück. Aber das will ich noch nicht verraten…

MF: Christopher hat heute auf der Probe gesagt: «An Schauspieler*innen erinnert sich in 100 Jahren niemand mehr.» Ich weiss nicht, ob das stimmt, man könnte aber behaupten: Die Figuren aus der Möwe werden Euch überleben. Tschechows Figuren werden vielleicht in 150 Jahren immer noch gespielt, aber Ihr seid dann nicht mehr da. Macht Euch das traurig?

WM: Mich macht es generell traurig, dass das Leben vergänglich ist. Aber das gehört dazu. Wenn ein Schriftsteller ein Buch schreibt, sind die Gedanken nach seinem Tod zwar noch da, aber der Mensch ist auch weg.

MF: Aber in Eurer Kunstform sind die Gedanken nur da, wenn Ihr da seid.

MB: Ich finde das nicht so schlimm.

BL: Die Endlichkeit ist auch gut, denn ohne sie wird einem irgendwann die Sinnlosigkeit der eigenen Existenz bewusst. Es ist cool, mit Freund*innen Kunst zu machen. Und da bleibt vielleicht auch etwas, Geschichten oder Anekdoten, und das ist schön.

MB: Wenn man nie Platz macht, dann geht es auch nicht weiter. Wenn man sich immer an uns erinnerte, hätte das, was nachrücken würde, dann überhaupt eine Chance?

SSo: Ich finde Endlichkeit super hilfreich. Wir müssen viel mehr über die Endlichkeit nachdenken, dann würden wir das, was ist, ein bisschen anders machen.

MB: Man würde so glücklich sein über sein Leben und denken: Wow, danke.

MF: Kann man das von Schauspieler*innen lernen, über die Endlichkeit nachzudenken?

BL: Da würde man Schauspieler*innen zu viel zumuten.

MB: Ist ja auch bisschen ein Pippi-Pappi-Beruf, wenn man jetzt an Ärzt*innen oder Wissenschaftler*innen denkt. Klar, Kunst ist etwas Wichtiges, es verändert Gedankengänge, Gesellschaftsformen. Und ich will, dass es Kunst gibt. Aber ich glaube, Kunst muss vergehen und darf nicht konserviert werden. Jetzt gerade erinnern sich vielleicht Menschen an uns, die uns auf der Bühne gesehen haben. Und es gibt Schauspieler*innen, die nachrücken, die uns anschauen und vielleicht denken: Ah, ich kann etwas von dir lernen. Also wird ein kleiner Teil unseres Wissens und unserer Arbeit weitergegeben. Aber die Erinnerung an uns wird immer weniger werden.

MF: Die Möwe ist die letzte Arbeit von Christopher in Zürich und bedeutet damit auch für einige von Euch eine Art Abschied. Beschäftigt Euch das während den Proben oder auf der Bühne?

MB: Doch! Ich denke ganz oft: Das ist für lange Zeit das letzte Mal, dass wir uns sehen, dass diese Konstellation von Menschen zusammen ist, dass wir hier auf der Probebühne sind, dass ich durch die Stadt gehe, in den Pfauen. Das hat aber etwas Schönes. Es pimpt die Stadt und das Ganze ein bisschen auf, alles wird friedlicher. Ich sehe auch viel mehr Schönes gerade. Das verstehe ich nicht, wieso ist das so?

WM: Vielleicht weil Du innerlich eine Distanz hast und die Nähe nicht mehr bedrohlich ist?

BL: Für mich ist es irgendwie gut. Auch das Stück hat etwas mit Abschied zu tun, damit, etwas zurückzulassen. Manchmal gibt es da so einen Blick, zum Beispiel wenn Wiebke als Nina zu Trigorin sagt: «Wir werden uns wahrscheinlich nie wiedersehen.» Manchmal schaut Wiebke dann zu Maja und mir und plötzlich kann man diesen Satz auch so lesen, dass wir uns vom Züricher Publikum verabschieden, dass wir weggehen. Ich finde, wir haben unsere Arbeit getan. Ich finde, wir haben das gemacht, was wir machen konnten. Ich bin okay damit, jetzt Platz zu machen.

MB: Aber ich will auch sagen, dass wir alles gegeben haben. Wir haben hier viel und ganz toll gearbeitet und ich finde es schön, das festzustellen und auszusprechen. Die Arbeiten, die hier entstanden sind, die werde ich auf keinen Fall vergessen. Ich weiss, dass diese Zeit in Zürich in meinem Körper gespeichert ist.

SSo: Für mich ist es kein Abschied von der Stadt Zürich, auch nicht vom Pfauen oder von der Probebühne, allein deshalb, weil ich eine Wochen nach unserer Premiere das nächste Stück beginne und nächste Spielzeit wahrscheinlich auch noch hier sein werde. Der Abschied findet für mich von dieser Konstellation von Menschen und dieser Form von Theater statt, von einer Art und Weise, miteinander zu arbeiten und einer bestimmten Form der Menschlichkeit vor, während und nach der Probe. Das finde ich jetzt schon sehr schade. Zu wissen, dass das jetzt die letzte Zusammenarbeit ist, das ist traurig. Und dann gibt es manchmal Momente, wo ich gar nicht so wirklich im Hier und Jetzt bin, und dann denke ich: Fuck, konzentrier dich mal, das hier wird es eine lange Zeit oder vielleicht überhaupt nicht mehr geben.

WM: Ich check’s auch gar nicht. Mir ist das grade noch nicht bewusst.

BL: Wie ist es denn für dich, Moritz?

MF: Ich habe nicht das Gefühl, mich zu verabschieden, weil ich überhaupt nicht richtig angekommen bin. Und ich habe die Hoffnung, dass für mich die Arbeit mit Christopher und damit auch mit einigen von Euch, weitergehen könnte. Das fühlt sich schön an, weil dann wäre die kurze Zeit, die ich hier verbracht habe, auch eine Passage woandershin. Für die Inszenierung gefällt mir sehr, dass wir den Figuren und Verhaltensweisen, die in sie eingeschrieben sind, einem bestimmten Blick auf Frauenfiguren zum Beispiel, nochmal begegnen, um uns dann von ihnen zu verabschieden.

MB: Oder auch über von ihrem Narzissmus!

MF: Das ist viel gesellschaftliche Arbeit, sich von solchen Strukturen zu verabschieden. Und ich frage mich oft, wieso diese Verhaltensmuster im Theater immer wieder gezeigt werden und was an der Idee von Katharsis dran ist: Wenn man diese Muster immer wieder aufführt, werden Sie dadurch wirklich abgeschafft? Das wir uns auf andere Art und Weise zu diesen Verhaltensmustern positionieren, sie explizit ausstellen, das feiere ich.

MB: Aber reproduzieren wir diese Strukturen nicht auch wieder?

WB: Die Figur der Nina verändern wir so, dass sie nicht bloss Objekt ist.

BL: Das ist Empowerment, auf jeden Fall. Das gefällt mir gut an unserem Konzept. Nina ist die Stärkste von allen. Aber auch Mascha und Medwedenko gefallen mir, weil sie eine Form von Beziehung zeigen können, in der man erwachsen über Problemen reden kann.

MB: Stimmt. Dadurch, dass wir ihre Geschichte anders erzählen, schützen wir Nina und reproduzieren nicht bloss ein Klischee. Und ich habe die Chance, Trigorin zu fragen: Möchtest du wirklich der alte Mann sein, der mit der jungen Frau eine Affäre beginnt?

MF: Findet Ihr das gut, Steven und Wiebke, dass Ihr also die Hoffnungsträger*innen spielt?

SSo: Ich finde Hoffnung schön. Die brauchen wir.

WM: Ja. Oder?

Impressum


Redaktion: Moritz Frischkorn

Die Texte Zu diesem Abend, Zu dieser Inszenierung und Von der Rolle zur Figur sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Das Interview mit Maja Beckmann, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer und Steven Sowah wurde transkribiert und redigiert von Lisa-Maria Liner.

Inszenierungsbilder: Orpheas Emirzas

Übersetzung: Die englische Übersetzung von Zu diesem Abend und Zu dieser Inszenierung wurde angefertigt durch Sinikka Weber.