Moist lower lips

by Michelle Steinbeck
published on 08. January 2020

Was hättest du lieber? Für immer:

a) eine von Spucke glänzende Unterlippe
b) wässrige Augen
c) eine missliche Körperhaltung
oder d) eine weinerliche Stimme?

Keine Angst, du musst dich nicht entscheiden. Wahrscheinlich hast du alles zusammen. Zumindest wenn du eine Figur in Ayn Rands Welt wärst. Dort gibt es nämlich nur zwei Typen von Menschen: Den adonishaften Wirtschaftsmessias und den verweichlichten Nichtsnutzik. Das habe ich mir jedenfalls sagen lassen. Es wurde mir tunlichst abgeraten, «Atlas Shrugged» zu lesen. Stattdessen habe ich das Internet gefragt. Und vor meinen entzündeten Augen entfaltete sich ein Volksspiel in Kommentarspalten.

Sittengemälde für beliebig viele Schauspieler*innen mit möglichst vielen falschen Schnauzern

1 Ayn Rand wurde mir von einem Girl empfohlen, das mit mir Schluss machen wollte.

2 Jede Person, die ich je getroffen habe, die Rands Sachen mag, war ein totaler Depp.

3 Mein Ex-Mann hat mich gezwungen. Die Lektüre war seine Bedingung für die Verlobung.

1 Das Lustigste, was ich in meinem Leben gelesen habe & oh so wahr.

2 Als ich noch im Buchladen gearbeitet habe, kam einmal ein Kunde vorbei und brachte Atlas Shrugged zurück. Er meinte, die Ideen seien erstklassig, aber er könne sie nicht mehr ernst nehmen, seit er entdeckt habe, dass sie von einer Frau geschrieben wurden.

3 Mir fällt keine Idee in diesem Buch ein, die ich nicht als gefährlich, fehlgeleitet oder zumindest als verdächtig empfinde.

2 Die John Galt Rede über Geld in Teil III hat mein Leben verändert.

1 Ich sage schon immer, dass ihre Fans besser im Selbsthilfe-Regal stöbern sollten.

3 Die Leute, die zugeben, dass sie Rand geniessen, tun das nur, weil sie darin Bestätigung für ihre eigene Asozialität finden.

2 Hängst du grad an der elektrischen Foltermaschine oder was?

1 Es ist völlig klar, worum es in diesem Buch geht: Der Sozialismus, der mal wieder ein Land zerstört. Das ist genau das, was gerade passiert.

3 Ja! Und Rand erklärt, wie die Menschen in dieser Gesellschaft zurückschlagen können.

2 Du lachst, aber du wirst der Verlierer sein.

1 Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass so ziemlich jeder, der anfängt, diesen Mist zu glauben, psychotisch ist.

2 Ich möchte etwas zur wirtschaftlichen Analyse sagen. Es ist absolut unwahr, dass die gegenwärtigen wirtschaftlichen Probleme von «ausser Kontrolle geratenen Märkten» herrühren.

3 Welcher Markt?

1 Gottlose Geldmengen.

2 Was weiss die Zürcher Bevölkerung schon über Kapitalismus und freie Märkte?

1 Wir müssen härter denken.

3 Das Chaos ist nicht auf entfesselte Märkte zurückzuführen. Im Gegenteil ist es die Folge einer ausser Kontrolle geratenen staatlichen Regulierung.

2 Genau! Und es gibt eine bestimmte Art von Leuten, die sich von diesen staatlichen Regulierungen angezogen fühlt und sie ausnutzt.

1 Leider werden sie in den Medien als «Geschäftsleute» dargestellt, obwohl sie in Wirklichkeit Plünderer sind. Rand hat diese Typen eindeutig als böse dargestellt.

2 He, du kannst doch nicht plötzlich sagen, dass die Boni-Bankiers in Wirklichkeit «Plünderer» sind. Du kannst dich nicht einfach umdrehen und schreien: «Mein Gott, das waren die ganze Zeit feuchtlippige Sozialisten!»

3 Genau, denn das waren sie nicht. Sie waren die Art von Leuten, die Ayn Rand vergöttert hat, und sie lag falsch, falsch, falsch.

1 Ja, ja, tausend Mal ja!

2 Jedes Kind weiss: Die Kommunisten sind an der Krise schuld. Sie zwingen die Banken, armen Leuten Geld zu leihen.

1 Schuld ist nicht der Börsianer, sondern die Dame, die seine Toilette putzt. Aber wird sie auch nur einen Tag im Gefängnis verbringen?

3 Hast du nicht gesagt, du hättest während der Lektüre Schuldgefühle, Selbstzweifel und Angst bekommen? Weil du dich selber in den Anti-Helden gesehen hast?

1 Schau in den Spiegel.

3 Wir wissen, dass Männer alle sieben Sekunden an Sex denken – meine Freunde bezeugen, dass das stimmt. Woran denken Frauen alle sieben Sekunden?

2 Gute Frage! Und wenn Männer, die alle sieben Sekunden sieben Mal an Sex denken, Bücher wie Lukas Bärfuss schreiben, dann schreiben Frauen, die genauso häufig an das Andere denken, Bücher wie Ayn Rand.

1 Steckt die Knarren weg! Ihr Kommunisten seid die einzigen, die Waffen brauchen – ihr müsst die Menschen zwingen, ihr hart verdientes Geld abzugeben. Der Kapitalismus verlangt hingegen nur, dass ihr andere um das bittet, was ihr wollt.

3 Genau, der Objektivismus sagt: Wir müssen lernen zu fragen, nicht zu sagen, was wir wollen.

2 Was tust du da?

1 Ich befeuchte meine Lippen.

Vorhang, Applaus.