Schreiend laute Stille

Die Publizistin Miriam Suter über das Schweizer #MediaToo


von Miriam Suter
erschienen am 19. Dezember 2023

Im Oktober 2023 trennte sich das Onlinemagazin Republik von einem seiner erfolgreichsten, prestigeträchtigsten Reportern, nachdem mehrere Frauen anonym in einem SRF-Artikel von Übergriffen durch den Mann erzählt haben. Dieser Fall spielt sich also in «meiner» Bubble ab, im Journalismus. Folglich war und bin ich eine von denen, die «das alles schon lange wussten» – ein Satz, den man gerade im Rahmen von #MeToo viel zu oft hört und selber sagt. Dies ist ein Versuch, zu erklären, wie sich solche Geschichten abspielen können und inwiefern wir als Journalist*innen selbst Teil eines Systems sein können, das sexualisierte Übergriffe nicht nur begünstigt, sondern schützt. Und dies teilweise über Jahre hinweg. Als ich mit Anfang Zwanzig in den Journalismus einstieg, waren alle meine Vorbilder Männer. Ich schaute auf zu Autoren aus dem Gonzo-Journalismus (bevor ich wusste, dass der von einer Frau, der Journalistin Nelly Bly, geprägt wurde), zu Schriftstellern aus der Beat Literatur. Ich wollte so schreiben können wie sie, wollte so sein wie sie. Damit einher ging auch ein patriarchal geprägtes Bild von Männlichkeit, das ich als normal empfand: oft rau im Umgangston, rücksichtslos, hartnäckig. Eigenschaften, die einem je nach Thema durchaus auch in journalistischen Recherchen zugute kommen können. Erst gegen Ende meiner Zwanziger habe ich verstanden, wie toxisch diese Vorstellung ist – und leider oft: wie frauenfeindlich. Was ich aber auch lernte: Sich wie ein Gonzo-Dude zu verhalten, wird im Journalismus vielerorts nicht nur goutiert, es wird gefördert und belohnt. Dieses Bild vom «lonely wolf», der nur für seinen Job lebt, für seine Geschichten brennt und eben «durch und durch Journalist ist», wurde nicht nur von alt eingesessenen Reportern aufrechterhalten; es wurde an Preisverleihungen besungen, die Branche stellte diese Männer wortwörtlich Jahr für Jahr auf Bühnen. Lange dachte ich, ich muss so sein – darf nur so sein! – damit ich meinen Platz im Journalismus verdiene. Dazu gehörte natürlich auch, solche Männer um mich herum auszuhalten, ihre Sprüche wegzulachen und auf Frauen herabzuschauen, die das alles gar nicht so lustig fanden. Das ist der so genannte Pick-Me-Effekt: Wenn ich dem als Frau und als Journalistin gefalle (weil in allererster Linie ist man als Frau im Patriarchat ja Frau, erst dann folgt alles andere), dann ist das ein gutes Zeichen. Dann gibt mir und meiner Arbeit das eine gewisse Wertigkeit. Die andern sollen mal nicht so schwierig tun, wobei: Das erhöht meine Chancen, von IHM noch mehr wahrgenommen zu werden. Ich bin anders als die anderen Frauen. Und das ist wichtig, denn er ist DER Topshot der Branche! Der ist genau so einer, wie ich es immer sein wollte! Willkommen im Kopf einer jungen Frau, die im Patriarchat sozialisiert wurde. Ich weiss heute, dass es längst nicht nur mir so ging. Ich lernte also auch, dass ein gewisses Verhalten normalisiert wird: «Der ist halt so», «Bei dem muss man einfach ein bisschen aufpassen». Das ergab für mich durchaus Sinn, genau so habe ich es ja in den Filmen und Büchern über und von meinem früheren Vorbildern gelernt. Wie gefährlich diese Männer für die Frauen in ihrem Leben waren, wurde mir erst viel später bewusst: William S. Burroughs etwa erschoss seine Ehefrau Joan Vollmer bei einem Willhelm-Tell-Spiel, als er mit einer Pistole eigentlich den Apfel auf ihrem Kopf treffen wollte. Burroughs war für seinen starken Gebrauch von Drogen und Alkohol notorisch bekannt. Heute fällt es mir schwer, mein damaliges Ich nachzuvollziehen. Aber wie ein Freund kürzlich treffend fragte: «Aber wusstest du, dass er ein Grüsel ist – oder dachtest du, dass er ein manischer bad boy ist, der das süsse Leben lebt?» Ich denke, Letzteres ist der Fall. Wenn man als Frau und Journalistin also mit diesem Hintergrund in eine Welt hineinwächst, die ihrerseits genau dieses Bild eines Starreporters immer wieder auf einen Thron setzt, verlangt es einem einiges ab, klar zu sehen. Und es braucht viel Mut, sich in einem solchen Klima zu wehren. Meine volle Solidarität gilt deshalb den betroffenen, die ihre Geschichten teilen. Dafür brauchen wir aber zwingend die öffentliche Unterstützung und Solidarität von Männern, gerade von Männern im Journalismus. Und ihre Stille ist bis anhin noch schreiend laut. Solange sich ausschliesslich die Betroffenen äussern, kommen wir nicht weiter. Frauen, die Übergriffe erlebt haben und sich dazu äussern, durchleben im schlimmsten Fall ihre Traumata jedesmal aufs Neue, wenn sie davon erzählen. Aber ohne diese Geschichten glaubt uns niemand. Weil hinter jeder betroffenen Frau mindestens ein Mann steht, der seinem Kollegen den Rücken freihält. Sei dies durch das Herabwerten der Frau, das Herabspielen ihrer Erfahrungen oder gar Schuldzuweisungen in ihre Richtung: Die wollte das ja auch! Wie kann sie es wagen, diese Anschuldigungen zu erheben – sie muss sich sofort entschuldigen! Was mich die letzten Jahre auch gelehrt haben: Betroffene von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt wollen nicht mehr schweigen. Trotz allem. Und im Rahmen einer erneuten Erstarkung der feministischen Bewegung – nicht zuletzt dank der beeindruckenden Mobilisierung rund um den nationalen feministischen Streik im Jahr 2019 – haben Frauen gelernt, dass wir nicht schweigen müssen. Dass wir uns gegenseitig durch den Sturm schiffen können. Es regt sich Widerstand, der auf Langfristigkeit ausgelegt ist, und das gibt mir Hoffnung. Vielleicht bin ich naiv, aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns in eine gute Richtung bewegen können. Wenn wir uns alle gegenseitig dabei unterstützen.