published on 04. April 2024

«Biedermann und die Brandstifter» ist eine schwebende Parabel, die seit ihren ersten Fassungen im Tagebuch von Max Frisch anno 1948 ein starkes interpretatives Drehmoment entfaltet hat, das vor keiner politischen Richtung Halt macht. Die Gefahr, die Angst vor ihr und ihre Abspaltung könnten sich auf Kommunismus, Nationalsozialismus, kapitalistische Geschäftswelt oder in concreto auf das bürgerliche Stammpublikum des Zürcher Schauspielhauses beziehen, das den Abbrand seines Theaters nicht für möglich gehalten hatte und diesen nun auch noch beklatscht. Zudem könnten im Gedankenexperiment die scheidenden Intendanten, das Duo Stemann/von Blomberg, vom Interpretationssog erfasst werden, gehörten sie doch, was die Materialität der altehrwürdigen «Pfauenbühne» betrifft, zur konstruktiven Abrissbirnenfraktion, die in der Umbau-/Neubau-Debatte vor einigen Jahren architektonisch Tabula rasa schaffen wollte für ein neues, technisch avanciertes Theater mit Zukunft.

Die aktuelle Zürcher Inszenierung macht gegenüber der Uraufführung des Dramas im Jahre 1958 einsichtig, dass dessen Deutungsoffenheit nicht primär den historischen Kontext betrifft, in dem eine saubere Aufteilung zwischen Gut und Böse vorgenommen wird, sondern die Rollenprofile selbst. Die bisherige Pointe des Stücks, dass nämlich Brandstifter ihre helle Freude haben dem, was sie professionell anrichten, während Biedermänner feige Mitläufer sind, welche das Augenscheinliche nicht sehen wollen, zündet dann nicht mehr. Es kommt vielmehr zur Rollenfusion, welche weit mehr Zerstörungsenergien freizusetzen vermag, als dies nihilistische Kriminelle allein je könnten. Die Zürcher Bühne mutiert zum Theatrum mundi: Was vor Ort geschieht, vollzieht sich auf verschiedenen Stufen und heute auf planetarer Skala mit der sich offensichtlich anbahnenden Klimakatastrophe. Allenthalben verstecken die Biedermänner ihr alter ego als Brandstifter hinter vorgespiegelter Ignoranz.

Das Bild lässt sich ohne weiteres auf die Schweiz anwenden. Max Frisch hat die Rolle eines Landes, das sich als humanitäre Feuerwehr gegen die Kriegsbrandstifter dieser Erde präsentiert, immer wieder hinterfragt. Er hielt das Völkerrecht hoch, sah die Neutralität aber nicht in diesem Rahmen, sondern als ein Dispositiv, mit dem die Schweiz Probleme auslagert oder verschwinden lässt. Er durchschaute diesen Tarnkappeneffekt. Dabei hat er sich als Autor selbst gewandelt: von seinem Aufruf zur «kulturellen Selbstbehauptung der Schweiz» im Zeichen der «Geistigen Landesverteidigung» im Jahre 1938 über sein Nachdenken über seine «besondere Lage als Verschonter» Ende der 1940er Jahre bis hin zur Kritik an der Schweiz zwei Jahrzehnte später lässt sich eine markante Positionsverschiebung erkennen. 1970 verfasste er in einem Tagebuch ein fingiertes «Verhör» zum Prozess gegen Dieter Bührle und den zynischen Waffenexporte dieses Rüstungskonzerns. Es gehe hier, so notierte Frisch, «im übrigen (…) um die Wahrung bewährter Beziehungen zwischen Wirtschaft und Behörden und Vaterland». In der Schweiz herrscht «das Recht auf Geschäfte mit dem Krieg». Indem Bührle privatwirtschaftlich operiert, nimmt den Bundesrat aus der Verantwortung; «als freier Unternehmer liefert er nach seinem Gewissen, unser Land ist am Profit beteiligt durch Steuern, aber nicht moralisch».

Neutralität funktioniert hier als moralischer Wasserlöscher für die schweizerische Politik, welche im marktliberalen Verständnis natürlich nicht dafür zuständig ist, was geschäftstüchtige Unternehmer entlang ihrer globalen Wertschöpfungsketten so alles abfackeln. Und Neutralität fungiert als effizienter Schaumwerfer, der Informationen über den oft verheerenden Impact des wirtschaftlichen Erfolgsmodells Schweiz im Ausland hinter einer nationalmythologischen Nebelwand verschwinden lässt. Neutralität heisst Problemexport, kombiniert mit Gewinnimport. Das schafft inländisch eine biedermännische Atmosphäre, in der sich um so besser leben lässt, je weniger die Folgen des eigenen Tuns in die gesicherte Heimat hereinbrechen. Diese «Geschichtslosigkeit als Komfort» geniessen nicht zuletzt die hiesigen (begüterten) «Ausländer» mit ihrem «oft frohen Verhältnis zu diesem Land» (so 1966 im Tagebuch). Das Ausblenden hat System, das Wegsehen ist profitorientiert, die Verdrängung integraler Teil eines nationalen Geschäftsmodells.

«Die Schweiz als Heimat?» lautet der Titel der Rede, die Max Frisch anlässlich der Verleihung des Schiller-Preises anfangs 1974 im Schauspielhaus Zürich hielt. «Was unser Land betrifft», so stellte er fest, dass die «jüngeren Landsleute» «weitaus gelassener», wenn auch «nicht unkritisch» seien, und jedenfalls «weniger, als es für uns viele Jahre lang der Fall gewesen ist, auf dieses Land angewiesen» seien. Für die ereifernde Erinnerung hätten sie bloss noch ein Achselzucken übrig. Denn «auch wenn sie im Land bleiben, leben sie im Bewusstsein, dass Vokabeln wie Föderalismus, Neutralität und Unabhängigkeit eine Illusion bezeichnen in einer Epoche der Herrschaft multinationaler Konzerne». Doch «die Maulhelden aus dem Kalten Krieg», die «ihre Karriere gemacht (haben), sei es als Bankier oder in der Kultur-Politik oder beides zusammen», hätten nichts zu bieten, was die junge Generation politisch beheimaten könnte. Sie praktizierten noch immer «LAW AND ORDER, und nach aussen eine Schweiz, die sich ausschweigt im Interesse privater Wirtschaftsbeziehungen».

Die Rede endet mit einer engagierten Stellungnahme, die auf den brutalen Militärputsch in Chile vom September 1973 Bezug nimmt: «Wer HEIMAT sagt, nimmt mehr auf sich. Wenn ich z.B. lese, dass unsere Botschaft in Santiago de Chile (…) in entscheidenden Stunden und Tagen keine Betten hat für Anhänger einer rechtmässigen Regierung, die keine Betten suchen, sondern Schutz vor barbarischer Rechtlosigkeit und Exekution (mit Sturmgewehren schweizerischer Herkunft) oder Folter, so verstehe ich mich als Schweiz ganz und gar, dieser meiner Heimat verbunden – einmal wieder – in Zorn und Scham.»

Max Frisch redet sehr emotional von der neutralen Schweiz. Die Reflexion auf Rollenteilung und -vermischung ist zentral für seinen kritischen Einspruch. Er mag weder die Reduktion auf das biedermännische Musterland noch auf den brandstiftenden Schurkenstaat. Er sieht die Sache komplexer und benennt Hebel für Veränderungen. Doch laue Neutralität war nicht seine Sache. Am Ende seines Lebens, in seiner letzten Publikation «Ignoranz als Staatsschutz?» (verfasst 1990, erstmals publiziert 2015) setzte er sich ziemlich wütend mit den Fichen, welche seine Bespitzelung dokumentierten, auseinander. Er sprach von einem «verluderten Staat», zu dem die Schweiz «unter der jahrhundertlangen Dominanz des Bürgerblocks» abgesunken sei. Diese Diagnose ist Max Frischs politische Hinterlassenschaft. Die Neuaufführung seines Stücks «Biedermann und die Brandstifter» hat sie in einer neuen gesellschaftlichen Konstellation aktualisiert.