published on 13. February 2024

Ich wurzle. Meine Familie hat es mir angetan, sie hat mich verwurzelt. Aber übel kann ich es ihnen auch nicht nehmen. Es ist etwas ganz Natürliches. Wie jedes Bäumchen seine Wurzeln schlägt, werden für jedes Kind die Wurzeln sichtbar, mit denen es zurechtkommen muss. Spätestens dann, wenn es das erste Mal mit Erwartungen konfrontiert wird. Vom Kind, Kim, wird erwartet, dass es sich seines vorgegebenen Geschlechts entsprechend verhält. Dass es das viele Schweigen der Familie auf sich nimmt. Dass es nicht fremdelt. Dass es keine Röcke anzieht, denn das ist Mädchensache, dass es ein Messer bei sich trägt, denn das gehört sich als Junge.

Meine Wurzeln formten mich. Sie formen mich immer noch. Langsam und unbemerkt wachsen sie weiter und wenn ich nicht aufpasse, drohen sie zu erstarren und sich zu härten. In meiner Kindheit wurde mir, wie auch Kim, viel mitgegeben. Und als Kind nimmt man alles in sich auf, ob man es will oder nicht. Es gab für mich gar kein „ich will“ oder „ich will nicht“. Sondern es war klar, dass ich es nehmen muss. Denn es wird von mir erwartet. Den Erwartungen zu entsprechen bedeutet, keine Probleme zu machen, nicht nach Aufmerksamkeit zu schreien, anders zu sein, aber bitte nicht zu anders.

Diese Verwurzelungen, welche man ungefragt mit sich trägt, sind nichts weiter als starre Muster, an welche sich Familien halten, so wie unsere Meer sich an das hielt, was ihre Meer ihr mitgab. Denn es ist so viel einfacher, sie anzunehmen als sich damit zu beschäftigen, oder herauszufinden wie man sie loswird, den Mut zu finden, sie loszuwerden. Dazu sind diese Muster ein Freipass, um weiträumig Akzeptanz zu finden. Und das funktioniert bei vielen Menschen gut. Wenn auch mit etwas Schweigen und Hinnehmen und Zurückstecken. Und es würde alles noch besser funktionieren, würde unsere Identität nur aus Wurzeln bestehen, wäre da nicht noch dieses ungemütliche Fliessen.

Ich fliesse. Vielleicht schaffen es die Wurzeln, dass ich so fliesse wie sie es gerne hätten. Dass ich nicht über die Wurzeln hinaus fliesse. Dass ich vielleicht einige Tropfen über den Rand lasse, aber auch nur um zu zeigen, dass es mich nur einmal gibt. Dass ich trotzdem nicht so bin wie die anderen, auch wenn ich sonst keine Risiken eingehe, um etwas anders zu machen, wie es von mir erwartet wird.

Aber bin ich dann noch ich? Wenn ich mich ständig der vorgegebenen Form anpasse, keine Initiative ergreife, und gemütlich, wenn auch vielleicht ängstlich, den Wurzeln meine volle Aufmerksamkeit schenke und gekonnt darauf achte, dass niemand mehr als diese Tropfen meines Einzigartig-Seins zu sehen bekommt?

Oder sollte ich mich doch breitmachen, nach Aufmerksamkeit schreien, Erwartungen unerfüllt stehen lassen, über die Wurzeln hinauswachsen und fliessen? Mich selbst neu formen oder würde ich mich dann „gehen lassen“? Gibt es ein Dazwischen? Ein Dazwischen, wie Kim es schon in der Kindheit zu suchen begann? Wahrscheinlich gibt es das. Vielleicht finde auch ich den Mut, mehr zu fliessen und weniger zu wurzeln. Vielleicht.

„Ich bin verwurzelt, aber ich fliesse“ - Virginia Woolf